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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Kwok
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konnte.
    Aber als endlich die letzte Schulstunde zu Ende ging, rannten alle anderen Kinder aus dem Klassenzimmer. Niemand blieb da, um den Boden zu wischen oder zu fegen, die Stühle auf die Tische zu stellen oder die Tafel zu putzen.
    Mr Bogart sah, dass ich zögerte, und fragte: »Kann ich dir irgendwie helfen?«
    Statt zu antworten, beeilte ich mich, aus dem Klassenzimmer zu kommen.
     
    Draußen wartete Mama auf mich. Ich war so froh, sie zu sehen, dass meine Augen ganz heiß wurden, als ich ihre Hand nahm.
    »Was ist los?«, fragte sie und drehte mein Gesicht in ihre Richtung. »Haben die anderen Kinder dich gehänselt?«
    »Nein.« Ich wischte mir die Wangen mit dem Handrücken ab. »Alles in Ordnung.«
    Mama sah mich aufmerksam an. »Hat dich jemand geschlagen?«
    »Nein, Mama«, antwortete ich. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Sie konnte sowieso nichts für mich tun. »Hier ist nur alles so anders.«
    »Ich weiß«, antwortete sie. Sie sah immer noch besorgt aus. »Was habt ihr heute gemacht?«
    »Weiß ich nicht mehr.«
    Mama seufzte und gab auf. Sie ging dazu über, mir den Weg zur Fabrik einzubläuen und eine lange Liste mit Dingen aufzuzählen, vor denen ich mich in Acht nehmen sollte: fremde Männer, Obdachlose, Taschendiebe, schmutzige Treppengeländer, Bahnsteigränder etc.
    In der U-Bahn-Station wurden ihre Worte von einem einfahrenden Zug übertönt. Wir stiegen ein und sahen die Wände der U-Bahn-Schächte hinter den schmierigen Fenstern vorbeischießen. Es war so laut, dass Mama und ich uns während der Fahrt kaum unterhalten konnten. Uns gegenüber saßen zwei Jungen, die etwa in meinem Alter waren. Als der größere der beiden aufstand, fiel ihm ein sperriges Messer aus der Tasche. Die Klinge steckte in einem Lederfutteral, und der schwarze, geriffelte Griff war für eine große Hand gemacht. Ich gab vor, nichts gesehen zu haben, und versuchte mich unsichtbar zu machen. Der andere Junge zeigte auf das Messer, der größere hob es auf, und dann stiegen sie aus der U-Bahn. Ich schielte zu Mama hinüber, die die Augen geschlossen hatte, und drängte mich näher an sie heran. Dann konzentrierte ich mich darauf, die Haltestellen und Umstiege auswendig zu lernen, damit ich mich alleine nicht verfuhr.
    Als wir aus der U-Bahn-Station traten, drehte sich Mama zu mir um und sagte: »Ich wünschte, du müsstest nicht alleine U-Bahn fahren.«
    Das war mein erstes Mal. Mit der Zeit wurde die Fahrt von der Schule zur Fabrik so selbstverständlich, dass ich mich
manchmal noch Jahre später, wenn ich ganz woanders hinmusste, versehentlich in der U-Bahn zur Fabrik wiederfand, als sei sie der Ort, zu dem automatisch alle Wege führten.
     
    Chinatown ähnelte Hongkong sehr, auch wenn die Straßen weniger eng und voll waren. Im Fischladen stapelten sich die Zackenbarsche und Körbe mit Krebsen; in den Regalen der Lebensmittelgeschäfte gab es Papayas, Litschis und Sternfrüchte in Dosen; Straßenhändler verkauften gebratenen Tofu und Reisbrei. Mir war nach Hüpfen zumute, als ich an Mamas Seite an Restaurants vorbeikam, in denen in Sojasoße marinierte Hühnchen im Fenster hingen, und an Juweliergeschäften, in denen das Gelbgold funkelte. Mühelos verstand ich, was die Leute sagten. »Nein, ich möchte Ihre besten Wachskürbisse«, sagte eine Frau. »Das ist viel zu teuer«, erklärte ein Mann in einer dicken Jacke.
    Mama führte mich zu einem Gebäudeeingang, hinter dem ein Lastenaufzug zum Vorschein kam. Wir fuhren nach oben und stiegen aus. Als Mama die Metalltür zur Fabrik aufstemmte, kam mir ein Hitzeschwall entgegen, der mich wie eine Faust umschloss. Die Luft war dick und schmeckte nach Metall. Dazu kam der ohrenbetäubende Lärm Hunderter Singer-Nähmaschinen. Über jede Nähmaschine beugte sich ein dunkler Haarschopf, aber keine der Näherinnen blickte auf; stattdessen fütterten sie die Maschinen mit meterweise Stoff und hetzten von Kleidungsstück zu Kleidungsstück, ohne abzusetzen, um den Verbindungsfaden durchzuschneiden. Fast alle Näherinnen trugen die Haare hochgesteckt, aber einzelne Strähnen hatten sich gelöst und klebten an schweißbedeckten Hälsen und Wangen. Jede Näherin trug einen Mundschutz, auf dem sich ein roter Staubfilm ablagerte, der die Farbe von Fleisch hatte, das zu lange an der Luft gewesen war.
    Die Fabrik nahm eine ganze Etage in einem riesigen Industriegebäude auf der Canal Street ein. Aus dem höhlenartigen Innenraum ragten freiliegende Stahlträger und

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