Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
die ein Kind allein vor einem leeren Gebäude warten ließ, deshalb hatte ich Angst, dass sie doch noch einen Rückzieher machte.
Sie hielt am Straßenrand. »Bist du sicher, dass du alleine zurechtkommst?«
»Ja«, antwortete ich. »Ich warte auf Mama. Sie bald hier. Tschüss.« Ich schlüpfte aus dem Auto und schloss die Tür hinter mir, bevor ich mich zu Mrs Avery umdrehte. Auch diesen Moment hatte ich vorher geübt. »Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft.«
»Gern geschehen.« Sie legte eine beringte Hand auf den Fensterrand und beugte sich zu mir hinaus. »Wir würden dich
sehr gerne mal zum Abendessen einladen, Kim. Sag doch Annette Bescheid, wann du kommen kannst, ja? Uns ist eigen Licht jeder Abend recht.«
Ich bedankte mich erneut und war überrascht, dass sie nicht anbot, bei mir zu warten. Als ich ihr hinterherblickte, fühlte ich mich auf einmal sehr einsam. Aber nachdem ich den langen Fußmarsch nach Hause zurückgelegt hatte und endlich die Tür zu unserem Gebäude aufschloss, fuhr ein Auto hinter mir vorbei, das genauso aussah wie ihres. War sie mir etwa den ganzen Weg gefolgt?
Ich rannte die Treppe hoch.
Ich dachte oft an das warme, mit Tierhaaren übersäte Haus der Averys und träumte davon, in Annettes Zimmer zu wohnen. Ein zusätzliches Bett hatte sie ja bereits, und sie konnte bestimmt Essen für mich ins Zimmer schmuggeln. Manchmal, wenn ich mich besonders allein und überfordert fühlte, stellte ich mir vor, ich würde Mrs Avery um Hilfe bitten. Allein die Existenz dieser Möglichkeit spendete mir Trost.
Als mich Annette aber das nächste Mal zu sich nach Hause einlud, verbot mir Mama hinzugehen. Ich flehte so lange, bis sie mich bei den Schultern packte, mir in die Augen sah und sagte: »Ah- Kim, wenn du öfter zu ihr nach Hause gehst, müssen wir sie auch einladen, und was dann? Mein kleines Herzblatt, wir haben doch schon genug Schulden, die wir nicht zurückzahlen können.«
Wenn Zahltag war, konnte man immer sofort sehen, wer eine Greencard besaß und wer sich illegal in den Staaten aufhielt. Die Illegalen wurden bar ausbezahlt, in Onkel Bobs Büro. Die anderen bekamen ihre Akkordarbeit in einen Stundenlohn umgerechnet und erhielten diesen Lohn in Form eines
Schecks. Wir bekamen zwar einen Scheck, mussten aber trotzdem ins Büro. An jedem Zahltag kam Onkel Bob schwerfällig zu unserer Arbeitsstation gehumpelt und eskortierte uns ins Büro, wo er unseren Scheck einlöste und das Geld vor unseren Augen aufteilte.
»Ich möchte, dass absolute Klarheit herrscht«, sagte Onkel Bob und klang resigniert. Er schrieb verschiedene Beträge auf einen Block und verteilte die grünen Dollarscheine auf getrennte Häufchen. »Das hier ist für deine Medikamente, als du krank warst in Hongkong. Das hier ist für die Flugtickets, das für die Visa, das hier sind die Zinsen für den Gesamtbetrag, das hier ist die Miete – ohne Zinsen natürlich –, das hier ist für Wasser, Gas und Strom, und das bleibt für euch.« Mit einem Seufzer schob er den kleinsten Stapel zu uns hinüber.
Beim ersten Mal war ich schockiert gewesen, wie wenig Geld für uns übrig blieb. Zum Glück besaßen wir kein Telefon, sonst hätte er uns auch dafür Geld abgezogen. Ich hatte gar nicht gewusst, dass wir Tante Paula und Onkel Bob alles zurückzahlen mussten, und mir war auch nicht klar gewesen, wie teuer Mamas Tuberkulosebehandlung und die Einwanderung gewesen waren. Das war also einer der Gründe, warum wir uns keine bessere Wohnung leisten konnten. Wenn uns Tante Paula doch nur mehr Zeit für die Rückzahlung unserer Schulden gelassen hätte! Jede Woche behielt Onkel Bob einen Teil unseres Lohns dafür ein, und auch die Wohnungsmiete und die Nebenkosten bezahlten wir in Raten.
Einmal versuchte Mama, mit Onkel Bob über die Wohnung zu reden. »Ah -Kim ist ständig krank, weil die Wohnung zu kalt ist. Wann wird denn eine andere Wohnung frei?«
Er betrachtete mich und meine fortwährend rote Nase. Sein Gesichtsausdruck war nicht einmal unfreundlich. »Schwer zu sagen. Tante Paula kümmert sich um diese Sachen. Aber jetzt
komm, ich kaufe dir einen Eistee. Hast du schon mal einen getrunken?«
Wir folgten Onkel Bob zum Getränkeautomaten, und er kaufte mir unter den ehrfürchtigen Blicken der anderen Kinder meinen ersten amerikanischen Eistee. Er war kalt und schmeckte nach Zitrone und war besser als alles, was ich bisher getrunken hatte.
»Danke, Großer Bruder Bob«, sagte Mama. »Wirst du nach einer
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