Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
mit Miss Kumar. Mama steuerte schnurstracks auf ihn zu, und ich stolperte hinterher und wünschte mir, die Macht zu besitzen, uns beide im Erdboden versinken zu lassen.
»Ja?«, fragte Mr Bogart und zog die Mundwinkel zu einer finsteren Grimasse nach unten.
»Fölige Weihnachten«, sagte Mama auf Englisch. Ihre Stimme bebte. Sie drückte Mr Bogart die Proviantdose in die Hand.
Er zog die Augenbrauen hoch und klappte dann langsam den Deckel der Dose auf, in der ein großer Hähnchenschenkel in Sojasoße zum Vorschein kam. Es war noch schlimmer, als ich befürchtet hatte. Für Mama war der Hähnchenschenkel ein Luxus, den wir uns nur selten leisten konnten, aber dass sie Mr Bogart so etwas Ordinäres wie einen Hähnchenschenkel überreichte …
Sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Verachtung und etwas anderem, was ich nicht identifizieren konnte – war es etwa Überraschung oder gar Dankbarkeit? Ich erwartete einen sarkastischen Kommentar, aber das ungewöhnliche Geschenk schien Mr Bogart sprachlos gemacht zu haben. Vielleicht lag es aber auch an der Anwesenheit von Miss Kumar.
Im Gegensatz zu Mr Bogart lächelte Miss Kumar breit und sagte: »Und da sagst du immer, keiner würde dir Wertschätzung entgegenbringen, Nick!« Sie wandte sich an Mama: »Kimberly scheint sich hier sehr gut einzugewöhnen, Mrs Chang.«
Mama verstand natürlich kein Wort von dem, was Miss Kumar gesagt hatte, aber sie konnte genug Englisch, um zu antworten: »Danka schön.«
Mr Bogart nickte Mama unvermittelt zu und versammelte dann die Klasse um sich, die uns verblüfft anstarrte, weil der verhasste Mr Bogart doch tatsächlich ein Geschenk bekommen hatte.
Mama ging eilig davon, und da Tante Paula an diesem
Morgen tatsächlich unterwegs gewesen war, wurden wir nicht gefeuert. Der Vorfall stimmte Mr Bogart mir gegenüber weder freundlicher noch feindseliger, und dafür war ich dankbar. Ich verstand, dass Mama alles in ihrer Macht Stehende tat, um mir zu helfen.
Kurz vor Weihnachten sah ich Matt in der Fabrik neben seiner Mutter arbeiten. Ich strich dem Pandabären in meiner Tasche mit dem Finger über die Stirn.
Dann ging ich zu Matt und sagte: »Fröhliche Weihnachten«, bevor ich ihm schnell den Panda hinstreckte. Über diesen Schritt hatte ich lange nachgedacht. So sehr ich Tyrone aus meiner Klasse auch mochte, ich hatte noch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Ich war Matt dankbar, und er war der einzige Freund, der wusste, wie mein Leben wirklich aussah – schließlich teilte er es. Der Panda war das Einzige, was ich zu bieten hatte, und das Verlangen, Matt ein Geschenk zu machen, war größer als der Wunsch, ihn selbst zu behalten.
Matt warf ihn in die Luft und fing ihn mit einer flinken Handbewegung wieder auf. »Womit habe ich den denn verdient?« , fragte er.
»Weil du mir geholfen hast«, sagte ich. Ich wollte noch hinzufügen »und weil ich dich mag«, ließ es dann aber.
Er lächelte, und ich sah, dass ein Bluterguss seinen Wangenknochen zierte. »Sieht aus, als wollte er lieber bei dir bleiben« sagte er und legte ihn behutsam zurück in meine Hand.
Hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und Enttäuschung, weil er mein Geschenk zurückgewiesen hatte, starrte ich auf meine Hand. Dann hob ich den Blick und fragte: »Was ist mit dir passiert?« Ich deutete mit dem Kinn auf seinen Bluterguss.
»Ach das. So ein paar Idioten, die meinen Bruder geärgert
haben.« Er zuckte mit den Schultern und versuchte, nonchalant zu wirken, aber er sah so klein und mager aus, dass ich unwillkürlich mit ihm litt.
Obwohl ich die Antwort bereits kannte, konnte ich mir die Frage nicht verkneifen: »Gerätst du oft in Schlägereien?«
»Nö«, antwortete er und grinste. Ich wusste, dass er log. »Lieb, dass du fragst, Kleine.«
»Ich bin nicht klein, ich bin genauso groß wie du.«
»Dann warte noch ein paar Jahre«, antwortete er und stolzierte davon.
Schon in Hongkong hatte ich Geschichten über den Weihnachtsmann gehört, aber dort waren wir Kinder davon ausgegangen, dass er die wärmeren Länder nicht mit seinem Besuch beehrte. Weil er nicht aktiv in Erscheinung trat und niemand viel über ihn redete, hatte ich im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern meines Alters nie gelernt, dass es ihn in Wirklichkeit gar nicht gab. Ich ging also davon aus, dass er hier in den Vereinigten Staaten einfach irgendwann auftauchen würde, genau wie all die anderen seltsamen Dinge, von denen ich vorher gehört, die ich aber nie
Weitere Kostenlose Bücher