Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
singen. Nachdem dann alle Lieder und Reden vorbei waren, wurden die Preise verteilt, und mein Name wurde nicht ein einziges Mal aufgerufen, nicht einmal in Chemie oder Mathematik. Tyrone ging mehrere Male auf die Bühne, und auch Annette gewann ein paar Preise. Ich schämte mich so, dass ich mir wünschte, Tante Paula hätte Mama doch nicht an der Feier teilnehmen lassen. Ich fragte mich, was sie wohl dachte. War es wirklich erst ein Jahr her, dass ich ein vollkommen anderer Mensch gewesen war?
Mrs LaGuardia redete nun von Voraussetzungen, die geschaffen worden seien, von Bürgerpflichten und einer glänzenden Zukunft. Dann schien sie ans Ende ihrer Ansprache zu kommen: »Manchmal haben wir hier an der Primary School 44 Schüler, die allen vermeintlich erdrückenden Wiedrichkeiten zum Trotz speckuläre Ergebnisse erzielen. In diesem Sinne möchte ich insbesonders Tyrone Marshall dazu
gratulieren, dass er an der Highschool des Hunter College für hochbegabte Kinder angenommen wurde.«
Tyrone stand auf und nahm seinen Applaus entgegen. Er setzte sich zwar schnell wieder hin, sah aber überglücklich aus, und eine schwarze Frau im Publikum jubelte so begeistert, dass ihr fast der Federhut vom Kopf fiel.
»Außerdem granuliere ich Kimberly Chang dazu, dass sie ein Vollstipendium an der Harrison Preparatory School erhält, eine noch niedergewesene Ehre für eine Schülerin unserer Schule.«
Wieder klatschten alle Beifall, aber ich war sicher, Mrs LaGuardia nicht richtig verstanden zu haben, und blieb bewegungslos sitzen.
Mrs LaGuardia sah mich an und fuhr fort: »Als Kimberly an unsere Schule kam, sprach sie kaum Englisch, und wir sind mehr als stolz auf das, was sie hier bei uns in küssester Zeit erreicht hat.«
Das Mädchen neben mir zischte: »Steh auf, du musst aufstehen!«
Als ich endlich doch für eine Sekunde aufstand, wurde der Applaus lauter, und das Blut pochte so heftig hinter meinen Augen, dass ich nichts sehen konnte. Nachdem ich mich wieder hingesetzt hatte und mein Kopf ein wenig klarer geworden war, sah ich mich nach Annette um. Auch sie reckte den Hals nach mir, und als sich unsere Blicke trafen, presste sie vor Aufregung die Hände aneinander. Über ihre Schulter hinweg entdeckte ich Mr Bogart, der blinzelnd und mit offenem Mund dasaß. Ich versuchte, Mamas Gesicht auszumachen, aber sie saß zu weit hinten und es waren zu viele Köpfe dazwischen. Ich hoffte, dass sie mich gesehen und verstanden hatte, dass der Applaus mir gegolten hatte. Ich konnte es kaum abwarten, ihr die guten Neuigkeiten zu erzählen.
Mama strahlte, als ich sie nach dem offiziellen Teil der Feier in der Menge aus Schülern und Eltern ausfindig machte.
»Warum musstest du aufstehen?«, fragte sie.
»Mama, die Schulleiterin hat gesagt, dass ich ein Vollstipendium für die Privatschule bekomme!«
Wir umarmten uns fest.
Mamas Augen leuchteten. »Was für eine Chance! Von jetzt an geht es bergauf, ah- Kim, und das haben wir alles dir zu verdanken.«
Ich blickte auf und sah Mrs LaGuardia vor uns stehen. »Sie müssen Mrs Chang sein«, sagte sie. »Es ist mir eine Freude, Sie endlich einmal kennenzulernen.«
Mama schüttelte ihre ausgestreckte Hand. »Hallo«, sagte sie auf Englisch. »Sie sehr gute Lehrerin.«
Ich sagte schnell auf Chinesisch: »Mama, sie ist keine Lehrerin, sie ist die Direktorin!« Und dann auf Englisch: »Di-rek-to-rin.«
Mama errötete und sagte auf Englisch: »Entschuldigung, viele Mal Entschuldigung. Frau Di-rek-to-rin.«
Mrs LaGuardia lächelte. »Keine Ursache. Sie haben eine ganz besondere Tochter, die wirklich ihr Bestes gegeben hat.«
Ich wusste, dass Mama kein Wort verstanden hatte, aber ihr war durchaus klar, dass es sich um ein Kompliment handelte. Also sagte sie mit nervöser Hektik: »Vielen Dank. Sie so gut. Sie gute Lehrerin.«
Ich konnte es nicht fassen, dass Mama schon wieder »Lehrerin« gesagt hatte, aber Mrs LaGuardia schien es nicht bemerkt zu haben. »Es tut mir leid, dass ich das Stipendium vor allen Leuten bekanntgegeben habe«, sagte sie zu mir. »Mir ist nicht entgangen, wie überrascht du warst. Ich selbst habe die Neuigkeit erst gestern erfahren und dachte, du wüsstest es bereits. Hast du denn keinen Brief bekommen?«
Noch während sie sprach, war mir klar, was passiert sein musste. Der Brief, der mich von meinem Stipendium in Kenntnis setzte, war bestimmt an die Adresse geschickt worden, die wir offiziell benutzten und die auch die Schule in ihren Unterlagen hatte.
Weitere Kostenlose Bücher