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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Kwok
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sagte aber sonst nichts dazu, genau wie ich. Ich glaube, wir warteten beide darauf, dass Tante Paula ihr wahres Gesicht zeigte. Bevor sie die Wahrheit erfuhr, wollten wir hören, ob sie uns wirklich helfen wollte oder nur versuchte, uns zu entmutigen.
    Tante Paula lachte. »Kleine Schwester, es überrascht mich, dass du Kimberly Hoffnungen machst, wo dir doch klar sein muss, was diese Schule kostet! Ihr solltet dieses Bewerbungsformular in den Müll werfen! Selbst Nelson ist dort nicht angenommen worden. Außerdem seid ihr sowieso viel zu spät dran.«
    Jetzt rückte ich doch damit heraus: »Das ist kein Bewerbungsformular, sondern die Annahmebestätigung und Gewährung eines Vollstipendiums. Meine Direktorin hat es uns heute mitgeteilt.«
    Tante Paula starrte mich an. Die Röte kroch ihr den Hals hinauf, und das Muttermal an ihrer Lippe zitterte. »Du gehst auf die Harrison School? Ihr beide habt das hinter meinem Rücken ausgeheckt?« Ihre Stimme bebte vor Zorn.
    Ich hörte Mama nach Luft schnappen und presste den Umschlag an die Brust. Tante Paulas plötzlicher Wutausbruch kam für uns beide überraschend.
    »Ältere Schwester«, sagte Mama ruhig. »Was für seltsame Dinge sagst du da?«
    Tante Paula legte sich die Hand auf den Kopf, offenbar, um sich zu beruhigen. Ihre Finger zitterten vor Erregung. »Mich wundert nur, dass derart wichtige Dinge passiert sind, ohne dass mich irgendjemand gefragt hat.«
    »Es ging alles viel zu schnell, und wir haben ohnehin nicht geglaubt, dass die Bewerbung erfolgreich ist«, versuchte Mama sie zu besänftigen. »Wir sind dir sehr dankbar für alles, was du getan hast.«
    Tante Paula hatte sich wieder gefangen. »Natürlich freue ich mich, dass Kimberly diese Chance bekommt. Und da habe ich mir Sorgen gemacht, dass ihr zwei hier in Amerika eine Belastung für mich sein könntet!«
    »Wir können selbst für uns sorgen«, sagte ich und hielt ihrem Blick stand.
    Tante Paula musterte mich, als sähe sie mich zum ersten Mal. »Das merke ich.«
    Als wir später wieder an unserem Arbeitsplatz waren, sprachen weder Mama noch ich offen über das, was sich in Tante Paulas Büro abgespielt hatte. Ich wusste, dass Mama die Schwächen ihrer Schwester in meiner Gegenwart nicht zugeben wollte. Aber mir war trotzdem klar, was gerade passiert war: Für einen kurzen Moment hatte Tante Paula ihre höfliche Maske abgenommen und uns das schwarze Gesicht darunter gezeigt. Wir durften weiter für sie arbeiten, wenn wir ihr keine Schwierigkeiten machten, aber sie wollte nicht, dass wir erfolgreicher waren als sie. Und ich sollte auf keinen Fall besser in der Schule sein als Nelson. Mit anderen Worten: Wenn es nach Tante Paula ging, konnten wir unser ganzes Leben lang in dieser Fabrik und dieser Wohnung versauern.
     
    In den Sommerferien schickte Annette mir Postkarten. Sie adressierte sie an »Miss Kimberly Chang« und unterschrieb mit »Hochachtungsvoll, Miss Annette Avery«. Ich hatte ihr meine echte Adresse gegeben, weil ich nicht wollte, dass diese Briefe durch Tante Paulas Hände gingen, und weil ich annahm, dass Annette, selbst wenn sie meine Adresse auf einem Stadtplan nachschaute, zu naiv war, um zu wissen, in was für einem Viertel ich da lebte. Aus dem Ferienlager schrieb sie:
     
    Mir ist so langweilig hier! Hier gibt es niemanden, mit dem man Spaß haben kann, und die Freizeitaktivitäten sind alle doof. Das Einzige, was ich gerne mache, ist schwimmen. Wenn es heiß ist, ist das Wasser im See angenehm kühl. Wir müssen hier bescheuerte Lieder singen und bescheuerte Spiele spielen. Ich wünschte, ich wäre wieder bei dir in New York!
     
    Ich hatte noch nie einen See gesehen und war noch nie geschwommen. Wie so vielen Einwohnern des damaligen Hongkong hatte Mama und mir das Geld für solche Aktivitäten gefehlt. Während der Arbeit malte ich mir oft aus, zusammen mit Annette an ihrem kühlen See zu liegen. Der Sommer in der Fabrik war eine einzige, endlose Hitzewelle inmitten des ohrenbetäubenden Getöses der Lüftungsanlagen. Es war unmöglich, sich bei diesem Lärm zu verständigen, daher wurde der Sommer für uns zur wortlosen Zeit. Die Fenster blieben hermetisch verschlossen, vermutlich damit keine Inspekteure auf die Idee kamen, sich die Fabrik genauer anzusehen, und so versprachen einzig die riesigen Industrielüfter ein wenig Erleichterung.
    Jeder Lüfter war groß und schwarz wie ein Sarkophag und mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Lange Schmutzfäden hingen von den

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