Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
Das war zwar nicht gerade elegant, aber zumindest waren die Steine dadurch abgedeckt. In dem Wagen waren auch mehrere Röcke, die Tante Paulas strengem Kontrollblick zum Opfer gefallen waren, und ich hätte alles darum gegeben, bereits in Erwachsenengrößen zu passen.
Wie gewöhnlich aßen Mama und ich zum Abendessen den Reis, den sie von zu Hause mitgebracht hatte. Für Chinesen ist Reis das eigentliche Essen, alles andere – Fleisch, Gemüse – ist nur Beiwerk. Wir hatten ohnehin so wenig Geld, dass Mama kaum noch Fleisch unter den Reis mischte.
Als wir an diesem Abend gegen halb zehn nach Hause kamen, hatte ich endlich Feierabend und zum ersten Mal Gelegenheit, über alles nachzudenken, was ich erlebt hatte. Ich war den ganzen Tag lang die einzige Chinesin in einer Schule voller weißer Menschen gewesen. Der rothaarige Junge, Greg, faszinierte mich und jagte mir gleichzeitig Angst ein. Das lag nicht nur daran, dass er sich über mich lustig gemacht hatte. Er sah so fremdartig aus mit seiner unglaublichen Haarfarbe, seinen blassgrünen Augen und den Adern unter der Haut. Und erst die Mädchen in meiner Klasse mit
ihren blauen Augenlidern, die ihre Augen ganz hohl aussehen ließen, und ihren dichten, nach oben gebogenen Wimpern! Ich stand vor unserem mit Farbe bespritzten Badezimmerspiegel und starrte mein Gesicht an. Ich sah überhaupt nicht aus wie diese Mädchen. Wenn sie hübsch waren, was war dann ich?
Am nächsten Tag traf ich mich zum ersten Mal mit meiner Englisch-Nachhilfelehrerin Kerry. Als ich das leere Klassenzimmer betrat, stand sie auf und schüttelte mir die Hand. Sie war ziemlich klein und hatte eine Lücke zwischen den Vorderzähnen, wenn sie lächelte. Sie erzählte mir, dass sie in die zwölfte Klasse ging.
Ich setzte mich und wartete darauf, dass sie ein Grammatikbuch aus der Tasche zog und mir sagte, was ich tun sollte. Auch sie wartete.
Dann fragte sie: »Was sollen wir machen, Kimberly?«
Ich starrte sie an. Sie war die Nachhilfelehrerin. In Hongkong hatte ich noch von keinem Lehrer gehört, der seinen Schülern den Unterrichtsstoff überließ.
Sie lehnte sich zurück. »Was wäre dir denn die größte Hilfe?«
Ich brauchte in so vielen Bereichen Hilfe. Nach kurzem Nachdenken antwortete ich: »Sprechen.«
»Gut. Wie wäre es, wenn wir uns unterhalten und ich alle deine Fehler korrigiere?«
»Ja! Danke!« Ich war so froh, dass mir endlich jemand half, mein Englisch zu verbessern, dass ich sie am liebsten umarmt hätte.
In unserem nun folgenden Gespräch fand ich heraus, dass auch sie Stipendiatin war.
Als sie sah, wie sehr mich das überraschte, erklärte sie:
»Nicht alle Stipendiaten gehören Minderheiten an, weißt du. Diese Schule ist ziemlich teuer.«
»Wie gefällt Harrison?«
»Wie gefällt DIR Harrison«, korrigierte sie mich. »Man muss sich dran gewöhnen, vor allem am Anfang, aber es hilft, wenn man sich ein Hobby sucht. Du weißt schon, Tennis oder Lacrosse oder so was. Oder die Schülerzeitung.«
»Ja, das gute Idee«, sagte ich, obwohl ich genau wusste, dass es für mich keine Hobbys nach der Schule geben würde. Ohne meine Hilfe bekam Mama die Lieferungen nie rechtzeitig fertig.
Greg und seine Freunde waren überall gefürchtet. Seine Sticheleien waren grausam und kalkuliert, und er suchte sich seine Zielobjekte genau aus: Elizabeth, die so schüchtern war, dass sie nur selten den Mund aufmachte, und deren schneeweiße Haut mit Sommersprossen übersät war (»Fräulein Windpocke«); Ginny mit ihrem feinen Schnurrbart (»Haben wir heute etwa unseren Rasierer vergessen?«); Duncan und seine tiefen, nasalen Atemzüge (»Duncan Vader«). Er roch auch sofort die Mottenkugeln an meinen Kleidern, die Mama und ich benutzten, um die Kakerlaken fernzuhalten. Greg musste sich nur die Nase zuhalten, wenn ich vorbeiging, schon folgte mir das Gelächter seiner Freunde den Flur entlang.
Der Unterricht war viel anspruchsvoller als an meiner alten Schule. Ich war zwar erleichtert, dass ich nicht mehr Mr Bogart als Lehrer hatte, aber es kostete mich einige Mühe, den Anschluss nicht zu verlieren. Als eine der größten Hürden stellte sich der tägliche Sozialkundetest zu den aktuellen Tagesereignissen heraus, durch den ich ein ums andere Mal fiel. Mr Scoggins verstand nicht, warum wir nicht einfach
jeden Abend die Sechsuhrnachrichten schauen oder einen Blick in die New York Times unserer Eltern werfen konnten.
»Wenn ihr etwas nicht versteht, fragt eure Eltern«,
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