Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
riet er. »Es trägt enorm zum Familienleben bei, wenn man gemeinsam über die Nachrichten diskutiert.«
Ich stellte mir vor, wie Mama und ich an einem glänzenden Esstisch saßen, wie ihn die Averys hatten, und lange politische Diskussionen führten oder wie mir Mama die Feinheiten der Watergate-Affäre auseinandersetzte. Als wir einmal einen Artikel über Artenschutz für den Unterricht lesen mussten, fragte ich sie allerdings tatsächlich nach ihrer Meinung.
»Warum sollte jemand ein Tier wie den Tiger retten wollen?« , fragte sie verdutzt und machte dann ein trauriges Gesicht. »In unserem Dorf in China ist einmal ein Baby von einem Tiger geholt worden.«
Ich erwischte sie manchmal dabei, wie sie durch meine Bücher blätterte und hier und da ein Wort auszusprechen versuchte, aber sie konnte es sich einfach nicht abgewöhnen, von rechts nach links zu lesen. Sie besaß ein dünnes Englisch-Lehrbuch, das sie sich in Chinatown gekauft hatte, und ich versuchte, sie sonntags zu unterrichten, aber Mama war noch nie besonders sprachbegabt gewesen. Hinzu kam, dass Englisch und Chinesisch so unterschiedlich waren, dass ich genauso gut von ihr hätte verlangen können, ihre Augenfarbe zu ändern.
In der Fabrik ließ ich bei der Arbeit das Radio laufen und versuchte, zumindest die wichtigsten Ereignisse des Tages mitzubekommen, aber oft wurden die Meldungen vom Dampfkessel übertönt, der direkt neben unserer Arbeitsstation stand und regelmäßige Zischlaute von sich gab. Außerdem kannte ich so viele Vokabeln nicht, und selbst wenn ich
eine Meldung akustisch verstand, besaß ich normalerweise nicht genug Hintergrundwissen, um die Zusammenhänge zu verstehen.
In Mathe und Biologie kam ich problemlos zurecht, weil ich eine natürliche Begabung dafür hatte, aber in den anderen Fächern brauchte ich dreimal länger, um die Lehrbücher auf Englisch zu lesen, als wenn ich sie auf Chinesisch gelesen hätte. Es reichte nicht, die Texte einfach nur zu überfliegen, denn wenn meine Konzentration auch nur eine Sekunde nachließ, wurde der ganze Satz unverständlich, und ich musste noch einmal von vorne anfangen. Alle paar Wörter stieß ich auf einen Ausdruck, den ich im Wörterbuch nachschlagen musste. Oft verstand ich kaum die Frage, geschweige denn die Antwort, die ich darauf geben sollte.
Zeichne das Thema Gewalt in der Geschichte nach, von seinen Ursprüngen bis zur unvermeidlichen Klimax; wodurch wird die Gewalt bei den einzelnen Protagonisten entfesselt?
Ich blickte auf und sah, dass sich Mama bettfertig machte. Ihre zierliche Gestalt wurde regelrecht erdrückt von den vielen Kleiderschichten, die sie mit einer pelzigen Weste aus dem gefundenen Plüschtierstoff zusammenhielt. Sie trug Handschuhe, rieb aber trotzdem die Handflächen aneinander, um sich aufzuwärmen. Im vergangenen Sommer hatte ich in einem Kinderbuch eine Szene gelesen, in der sich ein Vater mit seiner Tochter hinsetzte und ihr beibrachte, wie man einen Scheck ausstellte. Darüber musste ich oft nachdenken.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte Mama.
»Nein, schon gut.«
Sie seufzte. »Immer musst du lernen. Bleib nicht zu lange auf, Kleines.«
Ich wäre so gern ins Bett gegangen. Mein Nacken wurde immer schwerer und zog meinen Kopf mit sich nach unten, genau wie meine Augenlider. Die Wohnung war dunkel und leer. Ein paar Mäuse huschten in der Küche herum.
Ich rieb mir die Schläfen und las die Frage noch einmal aufmerksam durch.
Ein paar Wochen später war ich vor dem Sportunterricht gerade in der Toilette in meine Sportsachen geschlüpft, als ich ein Geräusch von oben hörte und mehrere Schatten über das große Dachfenster huschen sah.
Eins der Mädchen kreischte: »Die Jungs!«
Über uns waren Gelächter und Schritte zu hören, dann verschwanden die Schatten wieder.
Statt sich aufzuregen, schienen viele Mädchen nicht unerfreut über diesen Vorfall zu sein und tuschelten aufgeregt. Als ich am nächsten Tag an Greg vorbeikam, rief er den Flur entlang: »Sind diese Liebestöter, die du da trägst, wenigstens bequem?«
Die Jungs und Mädchen um ihn herum explodierten vor Lachen. Ich ging einfach weiter, aber innerlich brannte ich vor Scham. Ich musste dringend etwas unternehmen.
»Die anderen Kinder haben angefangen, mich wegen meiner Unterwäsche aufzuziehen«, sagte ich in der Fabrik zu Mama.
Sie zuckte regelrecht zusammen, und ich freute mich darüber, freute mich, dass ich recht behalten hatte und sie damit
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