Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
Unser Ansehen bei ihr musste gestiegen sein, was bestimmt nicht allein an meinen schulischen Leistungen lag. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass das noch nicht alles sein konnte. Vielleicht war ihr aufgegangen, dass ich für sie zur Bedrohung werden konnte, wenn sie Mama und mich nicht ein bisschen menschlicher behandelte. Man wusste ja nie.
Beim Abendessen wollte Tante Paula wissen, wie ich bei den Zentralklausuren abgeschnitten hatte und wie es mir gelungen war, an der Harrison angenommen zu werden. Ich umriss grob, was in den letzten Wochen passiert war, ließ aber die meisten Details weg.
»Und wie sind deine Noten jetzt, wo du auf so eine exklusive Schule gehst?«, fragte sie.
Ich starrte in meine Reisschüssel. »Der Unterricht ist nicht so einfach.«
»Ach wirklich? Auch nicht für so ein schlaues Mädchen?«
»Bei meiner letzten Englischprüfung hatte ich hundert Punkte«, warf Nelson ein. »Was hattest du?«
Ich hatte mir gerade eine Litschi in den Mund gesteckt und spürte, wie sich meine Zähne ins Holz der Essstäbchen gruben. »Wir gehen doch nicht mal auf dieselbe Schule, Nelson.«
»Ich weiß. Also, was hattest du?«, fragte er hartnäckig.
Ich schämte mich zwar, musste aber ehrlich antworten: »Siebenundsechzig.«
Nelson strahlte. Onkel Bob, der Godfrey gerade einen Löffel Reis fütterte, hielt mitten in der Bewegung inne.
»Aaah.« Tante Paula atmete aus. In ihrem Seufzer lagen Erleichterung und Befriedigung. Offensichtlich war ihre Freude darüber, dass ich keinen Erfolg hatte, größer als ihr Wunsch, dass sich Nelson ein Beispiel an mir nahm.
Mama runzelte die Stirn. Derart schlechte Noten kannte sie von mir nicht. »Davon hast du mir gar nichts erzählt, ah -Kim.«
»Das ist schon in Ordnung, Mama«, beschwichtigte ich sie. »Ich lerne, so viel ich kann.«
»Du musst aber dein Stipendium im Blick behalten, Kimberly«, mahnte Tante Paula. Ich wusste genau, dass sie sich insgeheim gefreut hätte, wenn man mir das Stipendium entzogen hätte. »Du willst doch nicht, dass es dir aberkannt wird.«
»Ich weiß«, antwortete ich. Das war auch meine heimliche Sorge, von der Mama eigentlich nichts mitbekommen sollte. Und natürlich hatten mich Nelson und Tante Paula vor ihr bloßgestellt. Ich sah Tante Paula in die Augen. »Ich bin abends so lange in der Fabrik, dass ich kaum Zeit zum Lernen habe.«
Mama unterbrach uns: »Du kannst dein Herz freigeben, ältere Schwester.« Das hieß, dass Tante Paula unbesorgt sein konnte. »Ah- Kim strengt sich immer an, so sehr sie kann. Nimm doch noch eine gefüllte Paprika.« Mama spießte ein Stück Paprika mit ihren Essstäbchen auf und legte es in Tante Paulas Essschale, während sie mir mit einem Blick zu verstehen gab, dass ich gefälligst den Mund halten sollte.
Ich gehorchte, und Mama wechselte das Thema.
Auch Annette hatte Schwierigkeiten, sich an der Harrison einzufügen, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Wie die
meisten Schüler stammte sie aus einer wohlhabenden Familie, aber sie sah zu ungewöhnlich aus und sagte zu freimütig ihre Meinung, als dass man sie problemlos akzeptiert hätte. Jeden Morgen hielt ich ihr einen Platz im Bus frei, und sobald sie eingestiegen war, sprachen wir den Rest der Fahrt über unsere Fächer und die Jungen, die Annette süß fand. Ich selbst war viel zu beschäftigt damit, den Anschluss im Unterricht nicht zu verpassen, um mich für meine männlichen Mitschüler zu interessieren. Außerdem waren die Jungen in meiner Klasse offenkundig nur daran interessiert herumzualbern und uns Mädchen zu ärgern.
Das braunhaarige Mädchen, Tammy, schielte manchmal im Bus zu uns herüber, und im Unterricht setzte sie sich ein paar Mal neben mich.
»Ich hab dich gestern versucht anzurufen wegen der Hausaufgaben«, flüsterte sie mir einmal in der Mathestunde zu. »Aber deine Nummer stand nicht im Schulverzeichnis.«
»Wir haben eine neue Telefonnummer«, erklärte ich. Die gleiche Lüge hatte ich auch Annette erzählt, bis sie irgendwann aufgehört hatte zu fragen.
»Wie ist denn deine neue Nummer? Dann schreibe ich sie mir auf.«
»Momentan haben wir Probleme mit der Leitung, weil draußen die Straße aufgerissen wird.«
»Oh.« Tammy sah mich ganz merkwürdig an. Von da an saß sie wieder öfter bei Sheryl und Greg und deren Clique.
Ich sog gierig alles auf, was mir meine Nachhilfelehrerin Kerry beibrachte, und sie verriet mir, dass sie noch nie eine Schülerin erlebt hatte, die so schnell
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