Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
hatte.
Ich hatte inzwischen meine Arbeitserlaubnis erhalten, und Mr Jamali teilte mir zusätzliche Stunden in der Bibliothek zu, für die ich sogar bezahlt wurde, weil sie über die für mein Stipendium erforderliche Arbeitsleistung hinausgingen. Ich achtete darauf, dass ich mir nachmittags nicht alle Zeitfenster mit Bibliotheksarbeit zustopfte, damit ich Mama so viel wie möglich in der Fabrik helfen konnte. Ich hatte ein Bankkonto auf Mamas Namen eröffnet, auf das wir jeden Dollar, den wir übrig hatten, für mein Studium einzahlten.
Mein Interesse an Make-up war wieder eingeschlafen. Ich interessierte mich zwar sehr wohl für mein Aussehen, konnte mir aber ohnehin beim besten Willen nicht vorstellen, eines Tages beliebt oder hübsch zu sein. Ich verstand nicht, wie das funktionieren sollte. Egal, wie Annette mein Gesicht anpinselte, unter all der Schminke blieb ich doch immer dieselbe. Außerdem war ich viel zu beschäftigt mit meiner Arbeit in der Bibliothek und in der Fabrik, damit, im Unterricht mitzuhalten, mit Referaten und Hausaufgaben und Tests. Auch ohne die bevorstehende mündliche Prüfung befürchtete ich ständig, über etwas zu stolpern, mit dem ich nicht umgehen konnte. Wenn ich eine Aufgabe oder ein Thema nicht verstand, konnte mir Mama nicht helfen. Sie war nie gut in der Schule gewesen, nur in Musik. Hinzu kam ihre Verwirrung über die fremde Sprache und die fremden Methoden. Sie war mir also überhaupt keine Hilfe, aber sie hatte mir erzählt, dass mein Vater sowohl sprachlich als auch naturwissenschaftlich ein brillanter Schüler gewesen sei und ich meine Intelligenz daher von ihm habe. Früher hatte mich dieser Gedanke getröstet, aber jetzt wünschte ich mir nur noch, ihn an meiner Seite zu haben.
Ich brauchte dringend eine Pause vom erschöpfenden Kreislauf meines Alltags, von der ständigen Beklemmung,
die mich überallhin verfolgte: Angst vor meinen Lehrern, vor jeder Aufgabe, vor Tante Paula, davor, dass wir diesem Leben vielleicht nie entkommen würden. Und dann stieß ich in der Bibliothek eines Tages auf eine Autozeitschrift . Während ich die Fotos von den glänzenden Cabrios durchblätterte, öffnete sich plötzlich etwas in meinem Kopf. Von da an wurden Auto- und Motorradmagazine meine Zuflucht. Wie viel lieber wäre ich mit einer Corvette in die wilde Nacht hineingefahren, statt Mamas Einkommenssteuererklärung zu machen, statt für alles verantwortlich zu sein, was auf Englisch erledigt werden musste. Ständig hatte ich Angst, etwas falsch ausgefüllt zu haben, dass plötzlich ein Steuerfahnder an die Tür klopfte und mir Fragen stellte, die ich nicht verstand.
Eines Tages blätterte ich in der Bibliothek gerade durch eine alte Ausgabe der Zeitschrift Cycle, die mir Mr Jamali geschenkt hatte, als mir plötzlich ein Bericht über ein bestimmtes Motorrad ins Auge stach. Anfangs verstand ich nicht, warum mir das Modell so bekannt vorkam, aber dann erkannte ich den Indianerkopf auf dem Tank: Es war das Spielzeugmotorrad, das Park immer mit sich herumtrug.
Später am selben Nachmittag hielt ich in der Fabrik nach Park Ausschau. Er hatte sich wieder einmal von seiner Mutter entfernt, aber solange er die Arbeiterinnen nicht störte, ignorierten sie ihn. Er stand gerade neben einer Näherin und starrte auf das Spinnrad ihrer Nähmaschine, dessen Surren ihn zu hypnotisieren schien. Wie üblich hielt er sein Indianermotorrad in der Hand.
»Der erschreckt einen ja zu Tode«, sagte die Näherin zu ihrer Sitznachbarin, ohne die Arbeit zu unterbrechen. Jedes Kleidungsstück raste so schnell durch ihre Nähmaschine, dass man es nur als verschwommenen Flecken wahrnahm. »Ich wünschte, er würde jemand anders anglotzen.«
»Solange ich das nicht bin …« Die andere Näherin lachte.
»Bin ich froh, dass ich nicht so einen Sohn habe. Er hat die weiße Krankheit.« Sie hielt Park für zurückgeblieben. Ich ärgerte mich über ihre Bemerkung, fragte mich aber, ob Park nicht tatsächlich schwerwiegendere Probleme hatte als nur eine Hörschwäche.
Um den Näherinnen einen Schrecken einzujagen, rief ich laut: »Park, ich habe hier einen Artikel über dein Motorrad!«
Zu meiner Überraschung drehte er sich mit erwartungsvollem Gesicht zu mir um. Die beiden Näherinnen erstarrten.
»Hier«, sagte ich.
Er griff nach der Zeitschrift, hielt sie sich dicht vors Gesicht und drehte sie immer wieder im Kreis, die Augen fest auf das Bild von dem Motorrad geheftet.
Ich nahm ihm den Artikel sanft
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