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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Kwok
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An Schlaf war nicht zu denken.
    »Du hättest nicht mit mir in die Fabrik kommen sollen«, erklang plötzlich Mamas schlaftrunkene Stimme von ihrer Matratze. Sie hielt inne, bevor sie fortfuhr: »Ich hätte dir nicht erlauben dürfen mitzukommen. Deine Prüfung morgen ist viel zu wichtig.«
    »Ohne mich wärst du aber nicht fertig geworden.«
    »Ich mache dir einen Tee.«
    »Mama, ich muss wirklich lernen. Schlaf weiter.«
    Am nächsten Morgen zitterte ich am ganzen Körper, als ich auf einem Podest vor der Tafel stand. Dr. Copeland und der Rest des mathematisch-naturwissenschaftlichen Lehrkörpers hatte in den ersten beiden Reihen Platz genommen. Ansonsten war das Klassenzimmer leer, und die abgerundeten Lehnen der unbesetzten Stühle bildeten vor mir ein Feld des Zweifels, und entsprechend fühlte ich mich wie eine vom Sturm gebeutelte Vogelscheuche. Jeden Moment konnte mich der Wind aus dem Gleichgewicht bringen, und dann würde ich in meine Einzelteile zerspringen und feststellen, dass nichts mehr von mir übrig war, nichts mehr von der Person, die ich so gerne sein wollte. Ich wusste, dass der Schlafmangel meine Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigte. Was, wenn ich nicht weiterwusste und die Lehrer daraufhin zu dem Schluss kamen, dass ich von Anfang an betrogen hatte?
    Ein Mann im blauen Hemd stand auf. Obwohl er nicht in
meiner Klasse unterrichtete, wusste ich, dass er Oberstufenlehrer für Chemie war. Er kam zu mir herüber und reichte mir schweigend eine Kopie des Periodensystems. Dabei beäugte er mich über seine Brille hinweg.
    Schließlich richtete er das Wort an mich: »Guten Morgen, Kimberly. Könntest du uns bitte sagen, wie du die Formeln für die Ionenverbindungen der folgenden Elemente aufschreiben würdest: Nickel und Schwefel, Lithium und Sauerstoff, Wismut und Fluor?«
    Ich holte tief Luft. Ich hatte zwar irgendwo gelesen, wie man die Formeln für ionische Bindungen vorausberechnete, aber ich hatte so etwas noch nie selbst gemacht. »Kann ich Papier haben?«
    »Die Tafel genügt doch.« Er wies auf ein Stück Kreide.
    Ich nahm es in die zitternde Hand und ging zur Tafel.
    Als die lange Prüfung endlich zu Ende war, herrschte Schweigen. Dann begannen die Lehrer langsam zu klatschen. Ich erschrak und blieb wie angewurzelt vor der Tafel stehen. Mein Blazer war bedeckt mit weißem Kreidestaub. Die Leiterin des Intensivprogramms stand auf und stürmte mit großen Schritten auf mich zu. Ihr Gesicht war gerötet vor Aufregung.
    »Ich habe dich wohl nicht richtig eingeschätzt, Kimberly«, sagte sie und streckte mir ihre Hand entgegen. Nachdem wir uns die Hände geschüttelt hatten, lächelte sie breit und sagte: »Ich danke dir für die Lehrstunde und freue mich sehr, dass wir eine so brillante Schülerin an unserer Schule haben!«
    Man beschloss, mich im mathematisch-naturwissenschaftlichen Intensivprogramm nicht nur ein Jahr, sondern gleich zwei Jahre überspringen zu lassen.
     
    »Ich muss meinem Vater heute etwas vorbeibringen. Willst du sehen, wo er arbeitet?«, fragte Matt. Sein Gesicht war plötzlich
vor mir aufgetaucht und schwebte über einem unordentlichen Stapel cremefarbener Blusen in der Luft.
    »Klar«, antwortete ich überrascht. Hatte Matt nicht gesagt, sein Vater sei tot?
    Ich erzählte Mama, dass ich Hausaufgaben zu erledigen hatte, und verließ die Fabrik früher als sonst. Das tat ich sonst eigentlich nicht, aber die Aussicht, ein paar Stunden mit Matt zu verbringen, war einfach zu verlockend.
    »Und was für eine Ausrede hast du ?«, fragte ich ihn.
    Für Matt war es einfacher, früher zu gehen. Jetzt, wo er an der Bügelmaschine arbeitete, wurde er als Erwachsener behandelt und konnte kommen und gehen, wann es ihm passte. Voraussetzung war natürlich, dass er die enorme Tagesquote schaffte, was oft bedeutete, dass er genau wie Mama und ich bis spät in die Nacht hinein arbeitete.
    »Mach dir um mich keine Gedanken, ich habe alles unter Kontrolle«, erwiderte er.
    Ich ging davon aus, dass er später zurückkommen und eine Nachtschicht einlegen würde, aber ich zuckte nur mit den Schultern. Der Fabrikstaub hatte sich in einer dicken Schicht auf meiner Jacke und meiner Schultasche angesammelt, die ich in einer Plastiktüte auf unserem Arbeitstisch aufbewahrte. Nach jedem Arbeitstag musste ich erst lange Schmutzfäden von der Tüte schütteln, bevor ich meine Sachen herausholen konnte.
    Matt wartete draußen auf mich. Er trug eine leichte Jacke und hatte ein Lieferfahrrad neben

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