Goodbye Leningrad
gegessen habe, ihre Gefühle verletzt habe. »Merk dir: Was Jupiter darf, darf der Ochse noch lange nicht.«
Obwohl ich diese Redewendung noch nie gehört habe, könnte ich mir ebenso gut vorstellen, dass Tatjana Wassiljewna sie erfunden hat, um sich selbst mit dem mächtigsten römischen Gott vergleichen zu können. Warum aber sollte ich der Ochse sein? Nicht nur, dass ich ohne Erlaubnis in irgendwelche Restaurants eindringe und offenbar nicht weiß, wo mein Platz ist, ich habe noch dazu keine Ahnung von römischer Mythologie und den damit verbundenen Redewendungen. Ich werfe Natascha einen Blick zu, die ganz still dasitzt, eingezwängt zwischen Tisch und Wand, und unsicher ist, ob dieser Wortwechsel auch etwas mit ihr zu tun hat.
In Tatjana Wassiljewnas Schlepptau verlasse ich das Restaurant und dessen schummrige Dekadenz. Noch immer gebeugt und restlos besiegt trete ich durch die zweiflügelige Eichentür des
Hauses der Freundschaft und des Friedens
, das einem, wie mir soeben klar wurde, weder den einen noch den anderen Trost, nach dem es benannt ist, zu bieten vermag.
Es geht das Gerücht um, dass mein Chef, Wiktor Nikolajewitsch, in die Tschechoslowakei versetzt wird. Die Leute erwähnen es voller Respekt: die Buchhalterin Ljudmila senkt ehrfürchtig die Stimme, während Olja, die Koordinatorin für die DDR, ihre Augen aufreißt und ihren Mund zu vollkommenen O’s formt. Da es sich um eine Versetzung in ein anderes Land handelt, geht es eindeutig um eine Beförderung. Welchen Ranges? Bedeutender als nach Bulgarien oder Vietnam, doch weniger gewichtig als beispielsweise nach Frankreich. |264| Jedenfalls verbringt Wiktor Nikolajewitsch inzwischen kaum noch Zeit hinter seiner Tür, was auf Tatjana Wassiljewnas Gesicht jedes Mal, wenn sie in den Warteraum segelt und sein leeres Büro vorfindet, einen verletzten Ausdruck hervorruft, worauf sie derart niedergeschlagen wirkt, dass sie noch nicht einmal so tut, als würde sie ohnmächtig werden, weil er nicht da ist und ihr bloß gelegtes Dekolletée oder in glänzendes Nylon gehülltes, fein säuberlich auf dem Boden neben meinem Schreibtisch platziertes, gebeugtes Knie nicht sehen kann.
Ich mag Wiktor Nikolajewitsch, und mir steht der Tag, an dem er gehen muss, bevor. Er ist unkompliziert, jederzeit zu Scherzen aufgelegt, regt sich nie meinetwegen auf und beschützt mich wie ein Vater, dabei sieht er überhaupt nicht wie mein Vater aus. Er raucht nicht, ist füllig um die Taille, hat einen hellen Teint und echte Zähne.
Der Buchhalterin Ljudmila zufolge hat er eine Schwäche für die Kellnerinnen in unserem Café. Er liebe sie, sagt sie, vor allem Maja mit ihrem aschblonden Haar, die mit Vorliebe eine eng anliegende Uniform trägt und roten Lippenstift auflegt. Aus irgendeinem Grund mag ich Maja nicht; seltsamerweise fühlt es sich beinahe wie Eifersucht an. Er ist mein Chef, und ich möchte, dass er mich mag, nur mich. Als ich vor einigen Tagen mit einem Stapel Papiere, die ich abtippen sollte, sein Büro verließ, nahm Wiktor Nikolajewitsch meine Hand, die ohne Papiere, hielt sie fest und starrte derart intensiv in meine Augen, dass ich den Blick senken musste. Als er sie wieder losließ, ging ich zurück an meinen Schreibtisch im Warteraum, und ein paar Minuten später brach er auf, nachdem er einen Anruf auf dem roten Telefon entgegengenommen hatte.
Seit dem Jupiter-und-Ochse-Vorfall hat Tatjana Wassiljewna mich nicht mehr angesprochen. Vielleicht wünscht sie sich, dass sie mich nicht im Restaurant gedemütigt hätte, da ich ihr, |265| wie sich nun herausstellt, eventuell dabei behilflich sein könnte, herauszufinden, wo Wiktor Nikolajewitsch steckt, wenn ihr wieder einmal danach zumute sein sollte, in Ohnmacht zu fallen. Vielleicht hat sie aber auch eine Entschuldigung für mein ungehöriges Verhalten erwartet und ist, als diese ausblieb, zu dem Schluss gekommen, dass ich ein hoffnungsloser Fall sei, dem sie nur auf eine Weise begegnen könne – indem sie mich links liegen lässt. Jedenfalls richtet sie, aus welchem Grund auch immer, nicht länger das Wort an mich, worüber ich regelrecht erleichtert bin.
Es ist April, zwei Monate vor Ende meines zweiten Studienjahres an der Universität, und ich überlege angestrengt, wie ich mein Abschlussexamen in Geschichte möglichst früh ablegen könnte. Es ist ein Pflichtkurs, die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, und wenn man sich vorzeitig prüfen lässt, löst man damit zwei mit
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