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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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vorn gebeugter Kellner mit einem weißen Geschirrtuch über dem Arm. Als ich in der Tür zum Café des
Hauses der Freundschaft und des Friedens
stehe, fühle ich mich so nackt und bloß, als würde ich ohne Kleidung das Büro meines Chefs betreten.
    Der Speisesaal mit den Neonlampen hat sich in eine dunkle, verrauchte Gruft verwandelt. Am hinteren Ende erkenne ich gerade noch die Theke mit den Kuchen, also nehme ich all meinen Mut zusammen und gehe schnurstracks auf die Regale mit den vertrauten Éclairs zu, wobei ich mich ganz auf das Leuchtfeuer der mit rosa Rosen geschmückten Törtchen konzentriere. Ich tue so, als würde ich hierher gehören, und obwohl ich tatsächlich hierher gehöre, habe ich das Gefühl, über ein Minenfeld zu wandeln und im nächsten Moment einen Fehler |261| zu begehen, der mir meine Maske herunterreißen und mich als das entlarven wird, was ich eigentlich bin: unbeholfen, linkisch und weltfremd.
    In der Nähe der Kuchentheke sitzt, wie eine Retterin, Natascha aus meinem Englischkurs an der Universität. Ich stürze zu ihr und begrüße sie, als wäre sie meine beste Freundin, die ich seit Jahren nicht gesehen habe, dabei habe ich erst gestern im Phonetikunterricht neben ihr gesessen. Sie erzählt mir, wie sie hier, bei diesem Konzert, in diesem Restaurant gelandet ist, doch ihre Worte erreichen mich nicht. Ich bin so erleichtert, dass ich Napoleon-Cremeschnitten und Kaffee und eine Flasche Limonade für uns beide bestelle, obwohl ich noch nicht einmal weiß, ob ich überhaupt Geld in meinem Portemonnaie habe.
    »Was sind das alles für Leute?«, frage ich Natascha mit einem Nicken in Richtung der im Dämmerlicht rauchenden Menge. Mir fällt auf, dass kein Essen serviert wird, nur Süßspeisen und Getränke.
    »Das wollte ich eigentlich dich fragen«, sagt Natascha. »Du arbeitest doch schließlich hier.«
    Sie hat recht; ich sollte es eigentlich wissen. Wahrscheinlich weiß es jeder, der hier arbeitet, bis auf unsere Schreibkraft Anna, die nichts anderes sieht als die Schreibmaschinentasten, da sie von Tatjana Wassiljewna mit Nichtbeachtung gestraft wird. Ich wette, all meine Kollegen haben bereits abends an diesen Tischen gesessen und sich Teller mit Éclairs bestellt, vielleicht sogar Cognac und Sekt, deren goldene Etiketten hinter der Theke leuchten.
    Ganz dekadent zieht Natascha eine Packung Zigaretten aus ihrer Handtasche. Wir zünden uns jede eine an und lehnen uns ganz entspannt und genießerisch zurück, während wir lässig auf unseren Tellern herumstochern, als würden unsere Eltern |262| uns zwingen, Tag für Tag morgens, mittags und abends Napoleonschnitten zu essen. Diese Verstellung gibt mir das Gefühl, wie alle anderen zu sein, als würde ich in einen dunklen Winkel dieses Restaurants gehören, wo niemand meine Anwesenheit infrage stellt.
    Doch da kommt Tatjana Wassiljewna majestätischen Schrittes durch die Tür und steuert direkt auf die Kuchentheke zu. Sie sieht mich am Tisch sitzen, und ihr Gesicht gefriert zu derselben Miene, die sie aufsetzte, als es Rita nicht gelang, ihr noch für denselben Tag eine Zugfahrkarte erster Klasse nach Moskau zu beschaffen, um eine Gruppe amerikanischer Geschäftsleute zu begleiten.
    »Darf ich Sie mal kurz sprechen?«, sagt sie mit drohendem Tonfall, während ich mich gehorsam erhebe, was wir, wie wir in der Grundschule und von unseren Müttern gelernt haben, zu tun haben, wenn wir mit jemandem reden, der älter ist als wir.
    »Ihre Arbeit endet um halb sechs«, sagt sie mit einem flüchtigen Blick auf ihre goldene Armbanduhr. »Es gibt für Sie keinen Grund, sich abends in diesem Restaurant aufzuhalten.« Auf ihren hohen Absätzen ist sie größer als ich, vielleicht liegt es aber auch an meinen eingezogenen Schultern, dass sie mich dermaßen überragt.
    Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, ob Tatjana Wassiljewna mir das Betreten dieses Restaurants verbieten darf, doch ihr erhobenes Kinn und ihre zusammengekniffenen Augen deuten darauf hin, dass sie es sehr wohl darf. Und diese Überzeugung, diese Autorität, die aus jeder Pore ihres stark geschminkten Gesichts dringt, bewirkt, dass ich noch mehr in mich zusammensinke. Ich bin also doch zu unterwürfig und feige, um dazuzugehören, und hasse Tatjana Wassiljewna dafür, dass sie mich mit der Nase darauf stößt.
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»Duschenka«
, sagt sie in gekränktem Tonfall, weil ich dadurch, dass ich an einem Ort, den ich abends nicht betreten darf, eine Napoleonschnitte

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