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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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gedruckten Speisekarte, das mittags für Angestellte und Angehörige eines erlesenen Publikums, das mit Außenpolitik zu tun hat, seine Pforten öffnet und an den Abenden, wenn im Ballsaal im ersten Stock eine Kunst- oder Kulturveranstaltung stattfindet, geöffnet bleibt.
    Diese Abende wecken meine Neugierde. Der Tagesablauf ist vorhersehbar und eintönig, nichts als Arbeit, die darin besteht, dass die verschiedenen Koordinatoren mit ihren Berichten vorbeitrotten, die Buchhalterin Ljudmila den neuesten Klatsch zum Besten gibt, Wiktor Nikolajewitsch in sein rotes Telefon prustet und Anna mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs auf die Tasten ihrer Schreibmaschine einhämmert. Doch was geschieht hier an den Abenden? Wer sitzt an diesen Tischen im Café, wenn wir alle in irgendwelchen Vorlesungssälen oder in unseren Wohnungen hocken, und welche Wandlungen vollziehen sich wohl an der Suppe, den Fleischbällchen und Kuchenstücken mit den rosa Rosen, sobald die Uhr sechs geschlagen hat?
    So kommt es, dass ich nicht um halb sechs nach Hause gehe, als aus Anlass des Geburtstags des britischen Komponisten Benjamin Britten eine Abendveranstaltung stattfindet. Es ist ein Mittwoch, der einzige Wochentag, an dem keine Kurse in der Universität angesetzt sind, und ich habe ein reines Gewissen. Ich steige die Marmortreppe mit dem schmiedeeisernen Geländer zum großen Ballraum empor, der so riesig ist wie ein Stadion und durch die deckenhohen Spiegel in ihren goldenen |259| Rahmen noch größer wirkt. Natürlich erblicke ich sogleich Tatjana Wassiljewna   – schließlich ist es eine englischsprachige Angelegenheit   –, die Rita anweist, wie die Stühle für die Musiker anzuordnen sind und wo das Podest aufgebaut werden soll.
    »Ich muss das Publikum direkt ansehen«, weist sie sie an. »Du willst doch nicht, dass ich mir den Kopf verrenke, oder?«
    Während Rita das Podest zu schieben versucht, fasst Tatjana Wassiljewna sich an den Kopf und schließt die Augen. »
Duschenka
, du zerkratzt ja das Parkett, siehst du das nicht?«, faucht sie sie an.
    Ich weiche zurück, da ich mich nicht am Schieben des Podests oder der Stühle beteiligen möchte, erst recht nicht unter dem Kommando von Tatjana Wassiljewna. Ich möchte ihr auch nicht erklären, was ich hier so lange nach Arbeitsschluss noch zu suchen habe, bei einem Konzert mit kapitalistischer Musik, das mir die höchst wahrscheinliche Aussicht bietet, mit Menschen aus englischsprachigen Ländern zu kommunizieren, ohne dass sie es mir erlaubt hätte.
    Ich sehe sie durch die Eingangstür hineinströmen, als ich wieder die Treppe hinuntersteige: eine Gruppe von Frauen, die jugendlich und alterslos wirken, alle mit vollem, blondem Haar und echten Lederschuhen, und Männern in Jeans, deren Bewegungen so gelassen sind, als hätten sie sich nie im Berufsverkehr in einen Bus zwängen müssen. Sie begaffen nicht das Gold, den Marmor und das Kristall, das einst im Besitz des Grafen Schuwalow war, dem vor 1917 all dieser Überfluss gehörte, bevor die Bolschewiken ihn dem Volk übergaben.
    Tatjana Wassiljewna erscheint oben auf dem Treppenabsatz und steht selbstgefällig da, als gehörte ihr all dieser Prunk, und wartet darauf, dass die Gruppe zu ihr hinaufsteigt. Sie gehen an mir vorüber und schicken einen Hauch von Westen in meine Richtung, einen Duft nach immerwährender Sauberkeit und |260| hochwertiger Kleidung, und da ich weiß, dass Tatjana Wassiljewna eine Weile beschäftigt sein wird, verziehe ich mich in das Café, in der Hoffnung, mit den ausgesuchten Mitgliedern der Öffentlichkeit, die zu derart exklusiven Anlässen geladen werden, in näheren Kontakt zu kommen.
    Eigentlich weiß ich gar nicht, ob ich mich wirklich in das Café verziehen möchte. Ich befürchte, dass mich alle ansehen werden, sobald ich es betrete, und sogleich merken, dass ich noch nie abends in einem Restaurant gewesen bin. Abgesehen von meiner Schwester, die manchmal in den Schauspielerclub geht, kenne ich niemanden, der je so etwas getan hat. Im Stadtzentrum gibt es ein paar Restaurants, in denen gewiss irgendjemand isst, doch werden sie grundsätzlich von Türstehern mit versteinerten Mienen bewacht, die nur mit Dingen bestochen werden können, auf die wir keinen Zugriff haben. Die Einrichtung dieser Restaurants habe ich mir immer wie die Ausstattung in alten Filmen vorgestellt: ein Klavier neben einer Palme im Blumentopf, ein von einer Tischlampe erleuchtetes gestärktes Tischtuch, ein nach

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