Goodbye Leningrad
dem Kurs verbundene Probleme: Zum einen würde mir erspart bleiben, die Seminare bis zum bitteren Ende über mich ergehen zu lassen und mir erfundene Geschichte anhören zu müssen, und zum anderen stehen die Aussichten, gut abzuschneiden, zu einem frühen Zeitpunkt um einiges besser, wie die schlauen Köpfe, die die ganze Prozedur bereits hinter sich haben, beteuern, da die Professoren dann noch nicht in der unbarmherzigen Stimmung der beiden letzten Semesterwochen seien. Ich habe auf einem Bogen mit dem Briefkopf und dem Stempel des
Hauses der Freundschaft und des Friedens
, den ich in der Schublade aufbewahre, ein Schreiben an den Dekan der Universität aufgesetzt, mit der Bitte, mich vorzeitig zum Examen zuzulassen, da wir im Juni dermaßen viele ausländische Delegationen aus aller Herren Länder erwarten würden, dass ich dann als Angestellte des
Hauses der Freundschaft und des Friedens
unmöglich Zeit zum Lernen finden würde.
|266| Tatsächlich ist der Juni der Monat, in dem alles bedächtiger zugeht und die Urlaubszeit beginnt, aber der Dekan und die Fakultät für Kommunistische Geschichte sind an die Verdrehung der Wahrheit gewöhnt. Der Brief ist tadellos getippt, es fehlt nur noch die Unterschrift des Direktors. Ich beschließe, dass der richtige Augenblick hierfür der Montag sein wird, der letzte Tag, bevor Wiktor Nikolajewitsch fortgeht, um seinen neuen Posten in der Tschechoslowakei anzutreten.
Am Sonntag beknie ich Marina, doch bitte das kleine Schwarze, das sie mir anhand der Abbildung aus Ritas ›England‹-Zeitschrift schneidert, fertigzustellen. Am Montagmorgen stehe ich um Punkt zehn Uhr in besagtem Kleid an meinem Schreibtisch und begrüße meinen Chef. Es ist kurz, sehr kurz, mit einem für die Arbeit zu tiefen V-Ausschnitt , was Wiktor Nikolajewitsch nicht entgeht. Er öffnet seine vollen Lippen, um etwas zu sagen, aber es kommt kein Ton heraus. Das Blau seiner Augen wird mild und schmelzend, während er mich ansieht – von Kopf bis Fuß, zum ersten Mal, seit ich dort arbeite. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, ist, dass dieser Blick mir angenehm ist. Er tut mir gut. Und diese wohltuende Wirkung hat wahrscheinlich unter anderem damit zu tun, dass dieser bewundernde Blick mir gilt – und nicht etwa Maja mit ihrer engen Uniform und den roten Lippen und schon gar nicht Tatjana Wassiljewna, die tausendmal in Ohnmacht fallen und noch so geschickt ihre Nylonstrümpfe und ihren Spitzenbesatz zur Schau stellen könnte, ohne je seinen Blick auf sich zu ziehen.
Wiktor Nikolajewitsch geht in sein Büro, und ich folge ihm mit seiner Post und dem getippten Brief. Er nimmt an seinem Schreibtisch Platz, setzt die Brille auf und fängt an, die Papiere durchzusehen, wobei er so tut, als hätte er mich nicht soeben mit seinen Blicken durchbohrt, als würde er das kleine Schwarze, das ich trage, nicht länger bemerken.
|267| »Könnten Sie das bitte unterschreiben?«, frage ich mit schüchterner, unterwürfiger Stimme, die bewirkt, dass Direktoren sich noch mächtiger fühlen, als sie es ohnehin schon tun. »Um mich vorzeitig prüfen zu lassen. Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.«
Er nimmt meinen Brief, liest ihn und blinzelt mir über den Brillenrand hinweg zu. »Dermaßen viele ausländische Delegationen im Juni«, liest er laut. »Unmöglich, Zeit zum Lernen zu finden, wie?«
Ich nicke und zwinge mich zu einem angedeuteten Lächeln, als Zeichen, dass ich weiß, dass er weiß, dass es gelogen ist.
Aus einem riesigen Schreibset, das seinen Schreibtisch beherrscht, nimmt er einen Füller, unterzeichnet den Brief und reicht ihn mir. »Es ist mein letzter Tag hier«, sagt er, als ich ein Dankeschön murmele. »Wir werden nach der Arbeit feiern.«
Es wäre wohl zwecklos, ihm zu sagen, dass ich um sieben Unterricht habe.
Der Tag zieht sich hin, da Wiktor Nikolajewitsch die meiste Zeit nicht in seinem Büro ist. Erst läutet das rote Telefon, worauf er sogleich fortgeht; dann taucht er wieder auf und verschwindet kurz danach wieder in Richtung Café und Kellnerinnen. Tatjana Wassiljewna schneit mehrmals herein, gefolgt von einer Parfümfahne, und bei einem ihrer Versuche hat sie Glück und stößt mit Wiktor Nikolajewitsch zusammen, der ebenfalls gerade den Raum betritt.
»So, so, es ist Ihr letzter Tag, habe ich gehört«, gurrt sie und bietet ihm ihre Hand dar, als erwarte sie, dass er sie küsst. »Alte Freunde müssen sich voneinander verabschieden.«
Wiktor
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