Goodbye Leningrad
Nikolajewitsch winkt sie in sein Büro, und sie wirft beim Gehen den Kopf zurück, so dass ihr zur Seite fallendes Haar goldene Herzen erkennen lässt, die von ihren Ohren herabtropfen.
|268| Fünf Minuten später ist sie zurück im Warteraum und sieht zutiefst enttäuscht aus. Ich stehe am Schreibtisch und tue so, als sei ich mit allerlei Arbeitsaufträgen beschäftigt, doch aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie mit den Schultern wackelt, als schüttle sie ihre Verlegenheit ab. Dann blickt sie zu mir und bemerkt mein Kleid. Während ich weiter durch Papiere blättere, kann ich ihr selbst aus diesem schrägen Blickwinkel ansehen, dass sie wütend ist. Ich weiß, dass sie weiß, dass Wiktor Nikolajewitsch sich länger von mir verabschieden wird als von ihr. Und dieses Wissen prickelt wie Sekt in meinem Hals, während sie den Kopf erneut zurückwirft und auf ihren Pfennigabsätzen klackend den Raum verlässt.
Der Sekt wird um sechs Uhr aufgemacht. Wiktor Nikolajewitsch, der während seiner wiederholten Abwesenheiten schon so manches Glas getrunken hat, winkt mich in sein Büro und schließt die Tür. Von der anderen Seite seines Schreibtisches aus schenkt er zwei Gläser ein; wir trinken; er schenkt nach.
»Auf Sie«, sage ich, und er sagt dasselbe. Der Sekt perlt durch meine Kehle in meinen leeren Magen – ich war zu aufgeregt, um mittags etwas zu essen, vielleicht wollte ich aber auch nicht unbedingt mein schwarzes Kleid im Café vorführen – und macht mich auf der Stelle betrunken.
»Werden Sie mich in Prag besuchen?«, fragt er, und ich kichere, weil es eine törichte Frage ist. Wir wissen beide, dass ich weder nach Prag noch in irgendeine andere ausländische Hauptstadt reisen kann, dass die wenigen, die es tun können, über die richtigen Verbindungen verfügen oder wie er der obersten Funktionärsriege angehören müssen.
»Wenn Sie mir ein Visum schicken, besuche ich Sie überall«, sage ich und kichere. »Überall im Ausland«, setze ich wohlweislich hinzu.
Wiktor Nikolajewitsch gesellt sich zu mir auf die andere Seite |269| des Schreibtisches. Er setzt sich mir gegenüber in einen Drehstuhl, streckt die Hand aus und zieht mich an sich, um dann seine riesigen Lippen über die meinen zu stülpen, samt Zunge und allem, für einen Abschiedskuss eindeutig zu lange. Ich wusste, dass etwas in dieser Art passieren würde, deshalb tue ich so, als sei ich es gewohnt, auf den Schoß meines Chefs gezogen zu werden, vor allem, da es sich so anfühlt, als würde ich fliegen. Vielleicht dreht er sich im Kreis, ich kann es gar nicht sagen, oder vielleicht tanzen ja die Stühle durch den Raum. Mein Mund schmeckt nach ihm, nach Cognac und Sekt, und mein ganzes Gesicht duftet nach ihm – nach Rasierwasser oder auch dem Parfüm, das die Kellnerin Maja heute aufgelegt hat.
Dann hört er auf sich zu drehen, hebt mich von seinen Knien und steht auf. »Schönes Kleid«, sagt er und zieht sein Jackett an. »Holen Sie Ihre Sachen. Wir gehen zu meiner Abschiedsfeier.«
Folgsam stehe ich auf, schlendere zur Tür und wundere mich, dass wir noch irgendwo anders hingehen, dass das Leeren einer Flasche Sekt und das Küssen in seinem Büro nicht schon Abschied genug gewesen ist. Um mich herum wirbelt nichts mehr, und ich bin imstande, mit einer einzigen Bewegung meine Jacke vom Haken zu nehmen. Ich bezweifle nicht, dass Wiktor Nikolajewitsch etliche Orte kennt, an denen man seinen Abschied feiern kann, doch in meinem Kopf dröhnt ein finsterer Gedanke wie heraufziehende Kopfschmerzen, ein schwindelerregendes Gefühl, dass dies noch nicht alles war. Immerhin ist er fünfundvierzig, und ich bin seine achtzehnjährige Sekretärin im Minikleid, beschwipst vom Sekt, eine dermaßen verfahrene und vorhersehbare Situation, von der jeder weiß, wie sie gewöhnlich endet. Ich werde allerdings auch als Einzige aus dem
Haus der Freundschaft und des Friedens
zu seiner Abschiedsfeier mitgenommen. Er nimmt weder die mondäne Tatjana Wassiljewna mit, die ganz verrückt nach ihm ist, noch die schlaksige, |270| hübsche Olja, die sich um die ostdeutschen Delegationen kümmert, noch irgendeine andere Frau, die hier arbeitet und deren Kleider nicht aus denen ihrer älteren Schwester umgeändert sind. Er nimmt mich mit, die ich nach der Arbeit keine Limonade in einem Café trinken darf und jetzt, nach all dem Sekt, zu seinem schwarzen Wolga schwanke.
Sein Fahrer Borja, ein freundlicher älterer Mann mit aufgeschwemmtem Gesicht, winkt mir
Weitere Kostenlose Bücher