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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Kinder«, flüstert Tatjana Wassiljewna Rita ins Ohr. »So wie du.«
    Rita lächelt betreten und bittet um Entschuldigung. Ich habe keine Ahnung, wie sie es fertigbringt, ihrem zerknirschten Gesicht ein Lächeln zu entlocken, vermute jedoch, dass sie wahrscheinlich |256| an die Zukunft denkt, wenn Tatjana Wassiljewna in zehn Jahren fünfundfünfzig wird und das Alter erreicht, in dem Frauen in Rente gehen, und Rita automatisch für sämtliche englischsprachigen Länder zuständig sein wird. Obwohl ich sehr wohl weiß, dass es eine großartige Aussicht ist, für die gesamte englischsprachige Welt verantwortlich zu sein, scheint es wenig lohnenswert, deswegen noch weitere zehn Jahre unter Tatjana Wassiljewnas Fuchtel auszuharren. Ich stelle mir vor, an Ritas Stelle zu sein und mit lauter geistreichen, schlagkräftigen Antworten aufzuwarten, die ich mir tagelang überlegen müsste, Antworten, die Tatjana Wassiljewna entwaffnen und zu einer umgänglichen, feinfühligen Person machen würden.
    Tatjana Wassiljewna verbringt viel Zeit im Warteraum, denn sie mag den Direktor, meinen Chef. Er ist natürlich verheiratet und muss wie alle Funktionäre eine einwandfreie gesellschaftliche Zelle mit Vorbildfunktion sein, doch diese Nebensächlichkeit ist für Tatjana Wassiljewna unerheblich. Sie denkt sich Projekte aus und schildert sie lang und breit der Schreibkraft Anna, die sich jedes Mal, wenn Tatjana Wassiljewna in den Raum segelt, wie eine Schildkröte in ihr abgetragenes Kostüm zurückzieht. Tatjana Wassiljewna macht sich an den Papieren auf meinem Schreibtisch zu schaffen und tut dabei so, als würde sie jedes einzelne lesen, dabei wartet sie nur darauf, dass die Eichentür sich öffnet. Wenn das nicht der Fall ist, greift sie sich an die Brust und fängt an, sich heftig Luft zuzuwedeln. Sie atmet schwer, ruft mit erstickter Stimme nach Rita. Wenn Rita herbeieilt, legt Tatjana Wassiljewna ihren Handrücken an die Stirn und fleht sie an, einen Arzt zu rufen. Das ist der Moment, in dem Wiktor Nikolajewitsch, der normalerweise einen solchen Aufruhr durch die Wände hindurch spürt, aus seinem Büro tritt und sie wieder zum Leben erweckt. Einmal sank sie, als er gerade bei einer Versammlung war, direkt vor dem Kamin |257| ohnmächtig zu Boden, wobei ihre Beine fein säuberlich an den Knöcheln übereinandergelegt waren.
    Ich kann meinem Chef an seinem Augenzwinkern ansehen, dass er Tatjana Wassiljewna und ihre theatralische Hysterie durchschaut und sie als das erkennt, was sie ist   – eine neurotische, einsame Frau. Aber sie ist eine hochrangige Koordinatorin für einen nicht unerheblichen Bereich der kapitalistischen Welt, deshalb müssen wir so tun, als wären wir wegen ihres flachen Atmens und Sich-an-die-Brust-Greifens besorgt, eilen zur Toilette, um kühles Wasser zu holen, und ins Café, um Zitronenschnitze zu besorgen, und knöpfen ihre Bluse gerade so weit auf, dass ein Hauch des Spitzenbesatzes ihres BHs zu sehen ist.
    Ich weiß zwar nicht, wo unsere Koordinatorinnen ihre Spitzenunterwäsche, hauchdünnen Strumpfhosen und perfekt sitzenden Kostüme kaufen, aber ich weiß, wo sie es nicht tun. Vielleicht ist ja der Besitz anständiger Kleidung, die nur schwer zu beschaffen ist, ein weiterer Vorteil, wenn man als Koordinatorin im
Haus der Freundschaft und des Friedens
arbeitet, neben einem Essenspaket mit einem Kilo Rindfleisch, einem Glas löslichem Kaffee und einer Dauerwurst, das man sich vor den großen Feiertagen bei einem speziellen Verteiler abholen kann. Was ich bei der Arbeit trage, ist das Ergebnis des Schlangestehens vor einem ganz normalen Geschäft oder entstammt den geschickten Händen meiner Schwester   – eine ungarische Bluse mit kleinen roten Blumen und ein brauner Rock, der aus Marinas alter Hose umgearbeitet worden ist. Meine Schwester ist in letzter Zeit guter Laune gewesen, deshalb schneidert sie mir aus einem Stoff, den ich in unserem Schrank aufgerollt entdeckt habe, ein kleines Schwarzes, wie ich es in der Zeitschrift ›England‹ gesehen habe, die aufgeschlagen auf Ritas Schreibtisch lag.
    |258| Abgesehen von Tatjana Wassiljewna und ihren nervösen Anwandlungen geschieht bei der Arbeit kaum etwas Nennenswertes. Ich sitze hinter dem Schreibtisch, mache meine Hausaufgaben und starre auf die Standuhr in der Ecke, deren Zeiger sich kaum zu rühren scheinen. Gegen halb zwei suche ich das Café im
Haus der Freundschaft und des Friedens
auf, einen exklusiven Ort mit Kellnerinnen und einer

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