Goodbye Leningrad
lächelnd zu, als führe ich schon seit jeher in diesem Wolga mit und hätte ihm nicht bloß Umschläge gereicht, die an wichtige Adressaten im Smolni, dem Hauptsitz der Leningrader Kommunistischen Partei, zu überbringen waren. Im Wagen riecht es nach Benzin und altem Leder, und ich bin froh, dass Wiktor Nikolajewitsch sich auf seinen gewohnten Platz vorne fallen lässt. Sobald er die Tür zugeschlagen hat, legt Borja den Gang ein, und schon brausen wir los.
Der Wagen rauscht durch dunkle Straßen, während ich den Kopf aus dem heruntergekurbelten Fenster strecke, um zu sehen, wohin wir fahren. Ich bin begeistert, mit Wiktor Nikolajewitsch in diesem luxuriösen Auto zu sitzen, betört von all der Exklusivität und mir entgegengebrachten Aufmerksamkeit. Ich martere mich jedoch auch mit dem Gedanken, was er möglicherweise mit mir vorhat und das ich zweifellos über mich ergehen lassen werde. Wir flitzen dahin, bis das Gebäude der Smolni-Kathedrale in Sicht kommt, deren perlmutterfarbene Kuppeln so weich vor dem schwarzen Himmel schimmern. Daneben befindet sich das gelbe Smolni-Institut, die Kommunistische Partei Leningrad höchstselbst.
»Fahren Sie direkt vor den Eingang«, verlangt Wiktor Nikolajewitsch. »Grischas Büro ist gleich am Ende des Korridors.«
Grischa, sagt er, sei sein Freund, der ihn immer auf dem roten Telefon anrufe.
|271| Der Wagen holpert durch das Haupttor und fährt über die geschwungene Auffahrt zum Eingang. Ich kann inzwischen wieder gerade gehen, da mir die kalte Brise der Aprilnacht entgegenweht. Borja und ich steigen aus, ermutigt von der einladenden Geste unseres Chefs, und stehen den zwei Soldaten gegenüber, die beiderseits der Tür Wache halten, mit Gewehren, die so groß sind wie in meiner Erinnerung einst das Jagdgewehr meines Vaters gewesen ist, als ich acht war. Sie starren unverwandt in die Ferne, doch als sie Wiktor Nikolajewitsch erkennen, treten sie schweigend beiseite und lassen uns passieren. Wir gehen einen Korridor entlang, der nach frischer Farbe riecht, auf eine der Türen mit goldenen Schildern zu. Drinnen sitzt ein Mann in den Vierzigern hinter einem Schreibtisch, sein Gesicht mit dem breiten Kinn leuchtet im Schein einer Tischlampe, und seine Unterarme ruhen auf der ledernen Oberfläche. Als wir uns hineinschleichen, nimmt der Mann seine Brille ab und lehnt sich mit der Brust gegen den Schreibtisch, um sich leichter zu erheben.
»Witja, komm rein, Kumpel, komm rein«, grölt er mit ausgestreckter Hand und klopft Wiktor Nikolajewitsch heftig auf die Schulter. »Er verlässt uns, kaum zu glauben.« Er wendet sich mir zu, und ich mache ein trauriges Gesicht, und zwar ein ziemlich überzeugendes, denn ich wünschte, er würde nicht nach Prag gehen und mich einem neuen Direktor überlassen, den ich noch nicht kennengelernt habe, der wahrscheinlich keinen heuchlerischen Brief unterzeichnen oder Witze erzählen und jeden zum Lachen bringen würde.
Grischa fordert uns auf, doch bitte in den Sesseln Platz zu nehmen, während er aus der obersten Schublade seines Schreibtisches einen kleinen Schlüssel hervorholt. »Zeit zum Feiern«, verkündet er und geht zu dem Safe in einer Ecke des Raumes, einem Respekt einflößenden Stahlschrank, dem idealen |272| Aufbewahrungsort für streng geheime dienstliche Unterlagen. Dort werden bestimmt Akten von Dissidenten und Pläne für Atomangriffe auf den Westen aufbewahrt. Dort sind bestimmt Pasternaks ›Doktor Schiwago‹ und sämtliche Werke von Solschenizyn in akkurat geschichteten, verbotenen Stapeln gelagert. Borja und ich sitzen gebannt da, starren auf den Schlüssel und auf das, was er sogleich offenbaren wird, und staunen insgeheim über unseren privilegierten, exklusiven Aussichtspunkt.
Mit präziser, geübter Bewegung dreht Grischa den Schlüssel im Schloss, worauf sich die schwere Tür lautlos öffnet. In der düsteren, eisernen Leere prangt, umgeben von sechs Schnapsgläsern, eine bauchige Flasche Cognac.
Als Grischa uns einzuschenken beginnt, winkt Borja ab und lässt ihn wissen, er sitze am Steuer und sei dafür verantwortlich, uns heil nach Hause zu bringen.
»Nur einen«, sagt Wiktor Nikolajewitsch. »Du musst einen auf mich trinken. Und mach dir um alles andere keine Sorgen.«
Borja hört auf zu winken. Ich bin sicher, dass er es kaum erwarten kann, Cognac aus einer Flasche mit der Aufschrift »Spitzenqualität« zu kosten, wie wir sie noch nie in einem unserer Geschäfte gesehen haben, wohl wissend, dass kein
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