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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Milizionär es je wagen würde, jemanden, der gerade aus dem Smolni kommt und den Inhalt eines seiner Safes gesehen hat, zu verhaften.
    Ich nippe viel behutsamer an dem honigfarbenen Cognac als ein paar Stunden zuvor an dem Sekt. Er hat einen intensiven Geschmack, riecht aber nicht wie gewöhnlicher Cognac, der, wie meine Mutter behauptet, nach Wanzen stinkt.
    Ich frage mich, was meine Mutter wohl sagen würde, wenn sie sehen könnte, wie ich mit drei Männern im Leningrader Hauptsitz der Kommunistischen Partei Cognac trinke. Ich |273| weiß, sie würde die Männer und die Trinkerei nicht gutheißen, aber was würde sie von dem hochkarätigen Cognac halten, der in einem Parteisafe aufbewahrt wird? Oder von all den Kilos Rindfleisch und den maßgeschneiderten Anzügen und den Reisen in die Tschechoslowakei, die Wiktor Nikolajewitsch und seinem Freund Grischa offenstehen, weil sie Zugang zum Smolni haben, dem Sitz der Partei, deren Mitglied mein Vater viel länger als jeder der beiden gewesen ist?
    Grischa schwelgt in Erinnerungen. Er erzählt, wie er und Wiktor Nikojalewitsch zusammen angeln gingen, als sie in die DDR beordert worden seien. Sie hätten Würmer ausgegraben und sich in ein Ruderboot gesetzt und den größten Hecht gefangen, den Grischa je gesehen habe.
    »Man kann einen Hecht nicht mit einem Wurm angeln«, wirft Borja ein. »Dafür braucht man einen Köder.«
    »Vergiss den Wurm, vergiss den Köder«, lacht Wiktor Nikojalewitsch lauthals. »Wir haben keinen Hecht gefangen, du alter Schwindler. Ich werde dir sagen, was wir uns eingefangen haben, falls du’s vergessen hast.«
    Ich frage mich, wie ich erklären soll, dass ich erst so spät nach Hause komme. Eigentlich sollte ich im Unterricht sitzen, englische Phonetik und danach im Geschichtsseminar, das ich bald hinter mir haben werde, weil sich in meiner Handtasche ein vom Direktor des
Hauses der Freundschaft und des Friedens
unterzeichneter Brief an den Dekan befindet. Ich frage mich, ob Grischa, der Freund meines Chefs, einflussreich genug ist, mich im nächsten Jahr gänzlich von der Abschlussprüfung in Wissenschaftlichem Kommunismus zu befreien.
    Grischa schenkt eine weitere Runde Cognac ein. Ich schüttle den Kopf und decke das Glas mit der Hand zu.
    Grischa und Wiktor Nikolajewitsch trinken, dann steht mein Chef auf und signalisiert damit, dass die Feier zu Ende ist. Er |274| umarmt Grischa und gibt dann Borja und mir ein Zeichen, ihm zum Auto zu folgen. Borja schüttelt Grischas Hand, und ich verabschiede mich lächelnd.
    »Wie fühlen Sie sich?«, fragt Wiktor Nikolajewitsch, der sich auf dem vorderen Sitz seines Wolga nach mir umdreht.
    Mir ist übel. Der leere Magen, der Sekt, der »hochkarätige« Inhalt des Smolni-Safes. Die Vorstellung, dass Wiktor Nikolajewitsch in ein, zwei oder fünf Sekunden meine Hand nehmen und dieses Mal nicht mehr loslassen wird. Das quälende Gefühl, etwas machen zu müssen, das ich nicht machen möchte, vor allem nicht mit meinem abreisenden Chef. Das dumpfe, beklemmende Gefühl, nicht aufzubegehren, wie meine Mutter es immer dann verspürt haben muss, wenn sie der geheimen Wohnung in Iwanowo ihren monatlichen Besuch abstattete.
    Wiktor Nikolajewitsch starrt mir mit seinen blauen Chefaugen ins Gesicht. Sein Gesicht kommt mir so nahe, dass mir sein Cognacatem in die Nase steigt. Von Nahem sieht er ganz und gar fremd aus. Mir wird klar, wie wenig ich über diesen Mann weiß, mit dem ich fast ein Jahr lang zusammengearbeitet habe. Ich weiß zum Beispiel nicht, wie alt seine Kinder sind. Ich weiß noch nicht einmal, ob er überhaupt Kinder hat.
    »Borja wird Sie nach Hause fahren«, sagt er. »Er setzt mich zuerst ab.«
    Ich nicke, halte den Kopf aus dem Fenster und lasse den Wind über mein Gesicht fegen.
    Kurz darauf hält der Wagen vor dem Gebäude, in dem er wohnt, irgendwo im Zentrum. Mein Chef, der inzwischen mein ehemaliger Chef ist, steigt aus, geht um den Wagen herum und lehnt sich in mein Fenster. »Behalten Sie mich in Erinnerung«, sagt er, lächelt mit seinen vollen Lippen und gibt mir einen echten Abschiedskuss, kurz und trocken.
    »Das werde ich«, sage ich, und ich weiß, dass er weiß, dass |275| ich es auch so meine. Ich werde ihn in Erinnerung behalten. Ich werde mich daran erinnern, dass er lustig und großzügig war, dass er mich beschützt hat, dass er das, was er hätte machen können, nicht gemacht hat. Und manchmal ist es gerade das Nichtmachen von bestimmten Dingen, das einen

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