Goodbye Leningrad
kommunistischen Parteichef über andere erhebt und ein klein wenig menschlicher werden lässt.
Borja und ich sehen ihm dabei zu, wie er zur Haustür schlendert, während der Sprühregen auf die Windschutzscheibe fällt und seine Konturen verschwimmen lässt, als würde er bereits aus der Erinnerung gelöscht.
Ich fühle mich alt, so alt wie Borja. Ich habe das Gefühl, nicht länger arbeiten zu wollen, jedenfalls nicht im
Haus der Freundschaft und des Friedens
. Ich möchte nicht jahrelang auf eine Beförderung warten, um dann Stühle hin und her zu schieben und Bahnfahrkarten zu organisieren; ich möchte nicht darauf warten, dass Tatjana Wassiljewna in Rente geht und Rita an ihre Stelle tritt und mich in derselben Weise missachtet, wie Tatjana Wassiljewna sie missachtet hat. Ich möchte mich nicht zwanzig oder dreißig Jahre lang zweimal täglich, um acht Uhr morgens und um sechs Uhr abends, in der Dämmerung in einen Bus zwängen, um dann vielleicht befugt zu sein, die gesamte englischsprachige Welt zu koordinieren.
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WEISSE NACHT
»Das
Present Perfect
ist eigentlich kein echtes Präsens«, sage ich zu meiner Privatschülerin Swetlana, die sich dermaßen auf meinen Mund konzentriert, dass meine Ohren zu glühen beginnen. »Es ist eigentlich eine Vergangenheit, die sich jedoch auf die Gegenwart auswirkt. Wie im richtigen Leben – ›you
have left
a good job‹ – du hast einen guten Posten aufgegeben, der dich zur Koordinatorin für sämtliche kapitalistischen Länder gemacht hätte, bist dir aber nicht ganz sicher, ob die Entscheidung richtig gewesen ist.« Ich schreibe das Hilfsverb »have« in ihr Heft, gefolgt von dem Partizip Perfekt »left«. »Nenn mir ein Beispiel«, sage ich.
»I have already read ›Crime and Punishment‹«, sagt Swetlana beflissen, eine Siebzehnjährige mit dem pickligen Gesicht einer fleißigen Schülerin, die die obligatorische Lektüre des Romans wahrscheinlich lange, bevor er im Lehrplan vorgesehen war, abgeschlossen hat.
Swetlana gibt sich große Mühe, gedrängt von ihrem Vater, einem leitenden Ingenieur und Parteimitglied, der sich schämt, eine gesetzlich nicht zugelassene Privatlehrerin zu beschäftigen. Andererseits ist ihm aber auch daran gelegen, dass seine Tochter die für die Zulassung an der Universität erforderliche Fremdsprachenprüfung besteht, weshalb er mich
angeheuert
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hat
(ein Beispiel für
Present Perfect
: eine Handlung in der Vergangenheit, die sich auf die Gegenwart auswirkt) und inzwischen »einfach wegschaut«. Das sagte er, als wir uns vor der ersten Stunde kennenlernten: »Sie wurden mir sehr empfohlen, obwohl es sich hier um eine Grauzone handelt. Ich werde also einfach wegschauen.«
Anstatt den Unterricht in einer Wohnung, in unserer oder der von Swetlanas Familie, abzuhalten, verabreden wir uns, wie es ihr Vater verlangt hat, in einem leeren Seminarraum der Universität. Sein Gesicht verzieht sich, sobald er das Wort »privat« gepaart mit »Unterricht« hört – ein leises Zucken läuft über seine Wange –, und die Tatsache, dass wir uns auf dem Universitätsgelände treffen, dient ihm zumindest teilweise als Legitimation, sich an den Ausbildungsschwarzmarkt zu halten.
Meine Freundin Nina und ich werden über das weit verzweigte universitäre Netzwerk aus Mund-zu-Mund-Propaganda und Beziehungen weiterempfohlen. Wir unterrichten seit dem Ende unseres zweiten Studienjahres und werden inzwischen von unseren angesehensten Englischdozenten, die uns mit ihrem britisch gefärbten Tonfall als »highly capable young girls« anpreisen, an jene vermittelt, die Privatstunden benötigen. Da wir täglich drei Stunden in der nicht existierenden Privatwirtschaft arbeiten, verdienen wir mehr als der Dekan unserer Fakultät. Wir nehmen einen Haufen Rubel ein, dabei gibt es ironischerweise trotz unseres »angehäuften Vermögens« – der Plage eines jeden kapitalistischen Landes, wie wir aus unserem Lehrbuch zum Wissenschaftlichen Kommunismus wissen – kaum etwas, das wir mit unserem Reichtum erstehen könnten. Die Bekleidungsgeschäfte hängen voller grauer Mäntel, in den Schuhläden herrscht ein Überfluss an schwarzen Dingern aus Vinyl, die die Füße übel zurichten, und die Kosmetikabteilungen bieten Handspiegel in roten Plastikrahmen |278| und schwarze Wimperntusche an, die auf unseren Wimpern zu giftigen Klumpen trocknet.
Die einzige Ausnahme bildet Parfüm. Ähnlich wie unsere Bäckereien, die nach wie vor
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