Goodbye Leningrad
Tschechow’schen Datscha verbracht hat, hinter weißen, hauchdünnen Vorhängen, die sich in der Sommerbrise blähten, dass ihre Tanten ihr gezeigt haben, wie man mit richtigem Besteck umgeht, dass ihre Großmutter sie gelehrt hat, wie man Gäste bewirtet und eine Unterhaltung führt, während ihre Mutter französische Gedichte in einem Buch mit Ledereinband gelesen hat, dem Familienerbstück einer Urgroßmutter, die für Verlaine geschwärmt hatte.
Ich beneide Nina mit dunkler, quälender Eifersucht um ihre Kindheit. Ich wünschte, meine Eltern hätten adelige Vorfahren. Ich wünschte, unsere Datscha hätte weiße, hauchdünne Vorhänge statt der mit toten Fliegen übersäten Fensterbretter; ich wünschte, wir würden nächtelang um einen Tisch sitzen, auf dem frisch gestärktes Leinen liegt anstatt eines Wachstuches mit verblichenem Sonnenblumenmuster; ich wünschte, wir würden über Etikette diskutieren, anstatt eimerweise Wasser zu Tomaten- und Dillbeeten zu schleppen. Ich wünschte, meine Mutter wäre in Leningrad geboren, anstatt in mittleren Jahren |281| hierher verpflanzt worden zu sein, zu spät, um Teil von dessen
intelligenzija
zu werden.
Die einzige Person, die genauso wenig wie Nina aus ›Krieg und Frieden‹ verbannt worden wäre, ist meine Tanta Mila. Sie ist eine Cousine meiner Mutter, also keine richtige Tante, aber was auch immer sie dem Stammbaum unserer Familie zufolge für mich sein mag, jedenfalls freue ich mich immer auf ihre alljährlichen Besuche im Juni, wenn sie etwa einen Monat lang bei uns bleibt, um Leningrads Kultur und Weiße Nächte zu erleben.
Tante Mila ist um die sechzig und lebt in Minsk, wo die Nächte das ganze Jahr hindurch schwarz sind. Sie trägt elegante Seidenkleider und wird, sobald sie in einen Spiegel blickt, auf einmal ganz ernst und hebt ihr Kinn in die Höhe, um ihr Gesicht mit einer altmodischen Puderquaste zu pudern, aus der weiße Talkumwölkchen aufsteigen. Tante Mila ist nicht verheiratet und lebt in der Wohnung der Familie ihres Bruders, in einem Zimmer, das gerade groß genug für ihr Bett ist. Sie könnte ebenso gut in einer Gemeinschaftswohnung leben, sagt sie; die Lebensmittel, die sie einkaufe, würden auf der Stelle verschwinden, es sei denn, sie nehme sie gleich mit auf ihr Zimmer und verstecke sie dort. Ich habe nie in einer Gemeinschaftswohnung gelebt, aber ich weiß von Freunden und aus Büchern von der kunterbunten Welt beengter Küchen mit vier wackeligen Herden und einem gemeinsamen Waschraum (sofern man sich glücklich schätzen darf, überhaupt einen Waschraum zu haben) mit einer rostigen Badewanne mit Schmutzrand, von Nachbarn, die einander in die Suppentöpfe spucken, und Kühlschränken, die neben Betten stehen, da man es nicht riskieren kann, sein Essen in der Küche den Gelüsten der anderen zu überlassen. Tante Mila hat in ihrem Zimmer nicht genügend Platz für einen Kühlschrank, weshalb sie ihr Essen in einem |282| Nachttisch versteckt. Sie spricht nicht gern über ihr Leben bei ihrem Bruder, darüber, wie sie auf Zehenspitzen geht und ihr Essen versteckt. Wenn also meine Mutter sich nach Einzelheiten erkundigt oder in ihrem Entsetzen über die Unverfrorenheit ihrer Verwandtschaft die Arme in die Höhe wirft, wechselt Tante Mila lieber das Thema und spricht über Puschkin.
»Man kann ein nützlicher Mensch sein und dennoch über die Schönheit seiner Fingernägel nachdenken«, rezitiert sie aus einem Gedicht, das keinen Eingang in unseren Lehrplan gefunden hat. Mir gefällt Tante Mila im selben Maße wie Puschkins Weisheit. Man kann so ernsthaft und vollkommen wie meine Mutter sein und dennoch eine Stunde damit zubringen, sein dünnes, plattes Haar zu toupieren oder einen neu gekauften Lidschatten aufzulegen, wobei man die beiden einzigen erhältlichen Farbtöne miteinander vermengt, damit man nicht aussieht wie eine Leiche – all das ohne Schuldgefühle, dass man stattdessen lieber Radieschenbeete jäten oder sich für Milch anstellen sollte.
Doch dann stellt sich heraus, dass Puschkin mit seiner tugendhaften Tatjana und Tolstoi mit seiner unschuldigen Natascha am Ende doch nicht so rechtschaffen waren, wie es in unseren Lehrbüchern heißt. Tanta Mila, die, bevor ihr mit fünfundfünfzig eine staatliche Rente zustand, Literaturkritikerin und Schriftstellerin war, erzählt mir Dinge, die in keinem Lehrbuch stehen. Puschkin, von dem sie behauptet, er habe keine Frau vorübergehen lassen, ohne sie zu erobern, sei der Verfasser
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