Goodbye Leningrad
köstliches Brot herstellen, haben unsere Parfümfabriken den Geruchscode geknackt und überfluten die Läden mit exquisiten Flakons der erlesensten Duftrichtungen in mit Seide ausgeschlagenen Schachteln, die so aussehen, als seien sie eigentlich dazu bestimmt, auf den Ladentischen der Champs-Élysées zu liegen. Ich versuche mir die Champs-Élysées vorzustellen, die ins Russische übersetzt Elysische Felder heißen, doch ergibt das Bild keinen Sinn. Ich sehe ausgedehnte grasbewachsene Felder vor mir, wie die hinter unserer Datscha, mit Büscheln aus Sauerampfer und einem Zigeunerbullen, der an einem verdächtig wackeligen Pfahl festgebunden ist. Aber wie kann es auf solchen Feldern – mit oder ohne Bullen oder Sauerampfer – zugleich die dekadentesten Läden der Welt geben? Ich bin überfragt, danke jedoch insgeheim unseren Chemikern, dass in der Tiefe meiner Tasche ein neuer, raffinierter Duft mit dem Markennamen
Weiße Nacht
in seinem Fläschchen hin- und herschwappt.
Jeden Monat spüre ich die unbehagliche Anwesenheit von Swetlanas Vater in dem Fächer aus Banknoten, den Swetlana mir am Ende des Unterrichts so unbeholfen überreicht, wie ich einst als Zehnjährige meiner Lehrerin Irina Petrowna das Geld überreichte. Die farbenfrohen Papierstreifen – rot, blau und violett – werden mir ein neues Parfümflakon verschaffen. Lieber würde ich ein Glas Mayonnaise oder ein Paar Schuhe kaufen, aber dergleichen Wünsche sind genauso realitätsfern wie mein Konversationskurs an der Universität, in dem wir lernen, wie man sich für eine vollends ausgeschlossene Reise nach London ein Hotelzimmer bucht.
Ich nehme meinen Flakon
Weiße Nacht
zur nächsten Unterrichtsstunde |279| mit Swetlana mit. Es ist ein schönes, leicht trapezförmiges Fläschchen, mit einem steil aufragenden gläsernen Hals, dazu bestimmt, die zarte Haut eleganter Frauen zu berühren. Es beschwört lauter Dinge herauf, die wir nur aus Büchern kennen: Krinolinen und Locken und blasse Schultern von Gräfinnen, in Ohnmacht fallende Debütantinnen und deren Zofen, Dekadenz und Aufruhr, junge Adelige, die für ihre Ehre mit dem Degen einstehen, furchtlose, schnurrbärtige Husaren in eng anliegenden Uniformen, Landgüter mit riesigen Obstgärten, dicht wie Wälder, Müßiggang und Vergnügen, eine Eichenallee mit einer Bank im geklöppelten Schatten der Blätter, ein Bauernjunge mit einem geheimen Brief, Troikas und Zigeuner mit ihren Gitarren und ihrem wallenden Haar, Kirchen mit goldenen Türmen, die den Winterhimmel durchbohren, ein berittener Bote, der in einem Schneesturm umkommt, ein Rudel Barsoi, die über eine Weide springen, Duellanten, die ihre Pistolen sinken lassen, Ehre und Pflicht, Kultiviertheit und Anmut, »privat« und »Privatsphäre« – Begriffe, die selbst Irina Petrowna unbekannt waren, die uns dermaßen fremd sind, dass das heutige Russisch sie noch nicht einmal als linguistische Einheiten kodifiziert.
Ich nehme den gläsernen Verschluss vom
Weiße-Nacht-
Fla kon
und berühre damit erst Swetlanas und dann mein Handgelenk, worauf wir beide so tun, als wären wir elegant und weltgewandt, als gehörten wir ins vorige Jahrhundert, als verstünden wir etwas von Privatsphäre.
Ich denke an den Film ›Krieg und Frieden‹, einen Vierteiler, so grandios wie der Roman, der einige Jahre zuvor auf unseren Kinoleinwänden zu sehen war. Das war die Welt, zu der das
Weiße-Nacht- Parfüm
genau passen würde, im Gegensatz zu Swetlana und mir. In der aufwendigen Filmversion, für die ein nicht unerheblicher Teil unserer Armee aus den Kasernen geholt, |280| in Uniformen aus dem 19. Jahrhundert gesteckt und dazu gebracht werden musste, vor Kameras und Nebelmaschinen zu marschieren, hatten Menschen wie ich nichts zu suchen, Menschen, die Borschtsch und
kotlety
vom selben Teller essen, die nicht wüssten, was sie sagen sollten, wenn ein Fremder – es müsste ja nicht gleich ein Prinz sein, sondern sagen wir irgendein Kollege von der Universität – an die Tür klopfen und sich vorstellen würde. Ich hätte keine anmutigen, hohlen Phrasen parat, wie sie den Adeligen so leicht von den Lippen gingen. Ich stamme von Bauern ab, und kein Prinz oder Graf aus der endlosen Liste Tolstoi’scher Charaktere hätte je seine Zeit damit verschwendet, mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
Nina, meine Freundin aus der Universität, hat tief reichende aristokratische Wurzeln. Ich stelle mir vor, dass sie ihre Kindheit in einer
Weitere Kostenlose Bücher