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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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jährlichen Besuchen in der Zahnklinik kennen oder von stillschweigenden Auseinandersetzungen mit der Schulbehörde, die gute Schüler zu überreden versucht, leitende Funktionen im Komsomol zu übernehmen. Dabei zittere ich erstaunlicherweise nicht einmal insgeheim, als ich meinem ersten Kurs gegenübertrete und vor vierzehn Amerikanern stehe, die mich mit derselben Neugier anstarren wie ich sie. Mein Russisch ist dem ihren weit überlegen, und da es sich in diesem Fall um einen Intensivkurs handelt und wir während des Unterrichts kein Englisch sprechen |321| dürfen, werde ich zumindest in linguistischer Hinsicht stets die Oberhand behalten.
    Während der Vorstellungsrunde betrachte ich ihre Gesichter, die bei Weitem nicht so ausländisch wirken wie ihre unterschiedlichen Akzente. Lisa aus Vermont, blondes Haar und kräftige Statur, könnte mit dem Bus übers Wochenende aus Finnland hergekommen sein; Charles aus Virginia mit seinen runden Brillengläsern und Pickeln sieht so aus, als gehörte er auf die Schule Nr.   239 für erweiterte Mathematik und Physik, zwei Straßen von meinem Zuhause entfernt. Sie sehen eigentlich ganz vertraut aus   – Steven, Mary, Tony, die sogleich zu Stepan, Mascha und Anton werden   –, doch manifestiert sich ihr Anderssein in ihrem offenen Blick, ihrem geraden Rücken, ihrem Bemühen, unsere vertrackte Sprache voller Konjugationen, Fällen, Verbalaspekten und palatalisierten Konsonanten, die kein Ausländer je zu meistern vermag, zu erlernen. Sie sind ungehemmt und furchtlos. Sie sind ernsthaft und freimütig. Sie sind das genaue Gegenteil von mir.
    Sie kommen von guten Universitäten   – Dartmouth, Columbia, Duke. Ich habe noch nie von einer dieser Hochschulen gehört, nicke jedoch, als wären sie mir bekannt. Dies sei ebenfalls eine gute Universität, sage ich und blicke in die Runde. Ich weiß nicht, ob es stimmt   – ich habe keine Quellen, keine Vergleichslisten, kein Handbuch   –, klinge aber so, als wüsste ich es. Sie nicken eifrig,
da
,
da
, eine sehr gute Uni. Nur das Studentenwohnheim sei ein wenig
antikwarni
, sagen sie. Nein, korrigiere ich sie mit belehrendem Tonfall   –
stari
– alt, nicht antik.
    Sie lachen. Natürlich nicht antik, alles andere als antik. Ich verrate ihnen nicht, dass es noch nicht einmal alt ist. Es wurde vor fünf Jahren gebaut, als ich noch am Anfang meines Studiums stand und vier Mal wöchentlich an dem Gebäude vorbeikam. Das wackelige Gerüst knarrte im Wind, und die Arbeiter |322| mit ihren wattierten
watnik
-Steppjacken und
uschanka -Kap
pen torkelten halb betrunken darauf umher und ließen letztlich alles mitgehen, was sie nur tragen konnten   – Türknaufe, Wasserhähne, Nägel. Es war eine ganz normale Baustelle, und das Wohnheim ist ein ganz normales Gebäude   – in kürzester Zeit alt und schäbig geworden wie alles andere auch.
    Die Amerikaner sind fleißige Studenten. Sie machen ihre Hausaufgaben und stellen Fragen. Während der Pausen mühen sie sich mit Fall-Endungen ab, wenn sie mir berichten, was sie alles am Nachmittag zuvor nach dem Unterricht besichtigt haben. Die Eremitage und Fontänen von Peterhof. Den Kreuzer
Aurora
, der an der Biegung der Newa nicht weit von ihrem Wohnheim dauerhaft vor Anker liegt; mit einem Kanonenschuss gab er das Signal für den Sturm auf den Winterpalast. Lenins Unterschlupf im Leningrader Vorort Rasliw, eine Laubhütte samt Kappe und Stiefeln, die auf einem Baumstumpf ausgestellt sind. »Es sind aber nicht seine echte Kappe und seine echten Stiefel«, sagt Anton angriffslustig. Kopien, stehe auf dem Schild; die Originale würden im Kreml verwahrt. »In einem Safe?«, fragt Anton mit amüsierter Herablassung. »Kappe und Stiefel in einem Kreml-Safe?« »Man befürchtet, dass jemand sie klaut«, entgegne ich, »irgendwelche
kapitalisty
wie ihr.« Sie lachen, denken, es sei ein Scherz. Es war nur ein Scherz, dabei weiß ich   – obwohl ich noch nie in Rasliw gewesen bin, weil ich mich vor jedem Schulausflug, auf dem wir dort hingescheucht werden sollten, immer gedrückt habe   –, dass dies tatsächlich der Grund dafür ist, dass es sich bei Lenins Kappe und Stiefeln in dessen Laubhütte lediglich um Reproduktionen handelt. Kapitalisten sind, wie wir alle wissen, Feinde, denen man nicht trauen darf, die nicht davor zurückschrecken, etwas so Verwerfliches zu tun, wie Lenins echte Habseligkeiten zu klauen und auf dem freien Markt an den Höchstbietenden zu verschachern.
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