Goodbye Leningrad
verwechseln mit »physician«, Arzt, eins der ersten Dinge, die ich in einem Kurs zum Übersetzen gelernt habe. Kein Arzt wie meine Mutter während des Krieges, nur einen Kilometer von der deutschen Front entfernt.
»Atom- und Astrophysik«, erläutert Robert. »Die Ausdehnung des Universums, Relativitätstheorie, schwarze Löcher. Ich beende gerade meine Doktorarbeit an der Universität von Texas.«
Ich habe keine Ahnung von Physik. Auf der weiterführenden Schule war es das einzige Fach, in dem ich zum Abschluss nur eine Vier anstatt einer makellosen Fünf bekam, wobei die Vier der Grund dafür war, dass mein Abschlusszeugnis nicht in rotes, sondern nur in schwarzes Plastik gebunden war.
»Ich spiele auch Oboe«, sagt Robert in dem Versuch, die harten Kanten der Wissenschaft mit Musik abzurunden, weil er vermutlich annimmt, dass er mich mit seinen physikalischen Qualifikationen eingeschüchtert hat, da ich mich nicht dazu äußere. Ich bin tatsächlich eingeschüchtert; von Musik verstehe ich genauso wenig wie von Astrophysik.
»Und warum sind Sie dann hier?«, frage ich. »Und lernen Russisch in Leningrad?«
Robert bleibt an der Granittreppe stehen, die zum Wasser, zu den kleinen, bleiernen, auf die nassen Steine züngelnden Wellen hinabführt, und blickt über den Fluss zur goldenen Kuppel der Isaakskathedrale. Selbst in diesem feuchten Licht erstrahlt sie in einem Glanz, der die Wolken über ihr anhebt, ein kleiner schirmender Lichthof in der regenschweren Luft.
»Während der Belagerung von Leningrad wurde sie grau übermalt«, sage ich. »Damit sie wie alles andere aussieht.«
Robert richtet den Blick auf die Kathedrale, als würde er ein mentales Foto aufnehmen, und wendet sich dann wieder mir |329| zu. »Ich mag die russische Sprache«, sagt er. »Ich möchte die russischen Autoren im Original lesen. Deshalb bin ich hier.«
Jetzt bin ich tatsächlich beeindruckt. Mir ist so, als hätte ich nicht das Recht, neben diesem hochintelligenten Amerikaner zu stehen, der tagsüber die Probleme des Universums löst und dann nach Hause geht, um Oboe zu spielen und sich mit ›Verbrechen und Strafe‹ auf Russisch abzuplagen.
»Lenin-grad«, sagt Robert. »Bedeutet
grad
nicht Stadt?«
»Ja, die Stadt Lenins«, sage ich.
»Aber ›Lenin‹ ist doch auch der Genitiv von ›Lena‹, oder? ›Lenas‹ heißt auf Russisch
Lenin
, richtig? Demnach bedeutet Leningrad eigentlich ›Lenas Stadt‹.« Robert sieht zufrieden aus, als hätte er gerade eine komplexe himmlische Gleichung gelöst. »Das hier ist deine Stadt«, sagt er und hebt die Arme, als überreiche er sie mir feierlich.
Dieser Gedanke ist mir noch nie gekommen, aber Robert hat recht. Er hat sogar weit mehr recht, als er ahnt. Lenins eigentlicher Name ist Uljanow. Das Pseudonym Lenin nahm er an, um die zaristische Polizei an der Nase herumzuführen, als er heimlich zwischen Russland und Finnland pendelte, um die Massen der Arbeiter im Hinblick auf die Revolution aufzustacheln, und er wählte dafür den Namen des großen sibirischen Stromes Lena. Deshalb bedeutet »Lenin« tatsächlich »Lenas«. Leningrad ist im wahrsten Sinne des Wortes meine Stadt.
Robert wartet an allen Tagen, an denen ich unterrichte, also drei Mal die Woche, auf mich, und dann spazieren wir durch das Stadtzentrum und sehen uns Orte an, die nicht in seinem Reiseführer stehen – reale Orte, die zu gewöhnlich sind, um unter die Hochglanzschnappschüsse von Bronzestatuen und goldenen Kuppeln gereiht zu werden. Wir wenden uns vom barocken Prunk des Winterpalastes ab und jenem Abschnitt |330| der Newa zu, wo die Kranhälse über das Wasser ragen, auf Seitenstraßen mit rissigem Asphalt, von denen man durch zerbröckelnde Torbögen in Labyrinthe aus Innenhöfen gelangt.
Robert ist von Höfen fasziniert. Er hat Dostojewski gelesen und möchte sich jene Hofschächte ansehen, die den Geist deprimieren und die Seele zu einem typisch russischen trostlosen Knoten verdrehen. Meiner Meinung nach hat sich der Beitrag der Innenhöfe zur allgemeinen Trostlosigkeit in den letzten hundert Jahren kaum gemindert, deshalb begleite ich Robert ihm zuliebe durch die gewölbten Durchgänge, um die Mülltonnen aus Aluminium, aus denen modernde Kartoffelschalen und Hühnerknochen quellen, zerbröckelnde Mauern, in denen es nur so vor elektrischen Leitungen wimmelt, und Stapel von rostigen Metallplatten zu bestaunen, die irgendwann einmal dorthin geschafft wurden, für eine Renovierung, zu der es
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