Goodbye Leningrad
Welt, die sich plötzlich so alt anfühlt.
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SPRACHVERMITTLUNG
»Sie und Ihre Freundin Nina können feiern«, flüstert mir meine Englischdozentin Natalija Borisowna ins Ohr. »Der Dekan der Fakultät und Vorsitzende unserer Parteizelle hat Ihre Bewerbungen angenommen. Nächste Woche fangen Sie an.« Als Zeichen ihrer Anerkennung legt sie den Arm um meine Schulter: Man befindet mich also für reif genug, beim sechswöchigen Sommerprogramm für amerikanische Studenten Russisch zu unterrichten. Ich weiß nicht, warum sie flüstert; vielleicht muss ja geheim gehalten werden, dass in unmittelbarer Nähe unserer sowjetischen Mitbürger leibhaftige Amerikaner auf dem Universitätsgelände herumspazieren.
Nina und ich haben soeben an der Leningrader Universität unseren Abschluss im Fach Englisch gemacht. Gleich nachdem Natalija Borisowna meine Schulter losgelassen hat, eile ich quer durch die Stadt, um Nina die gute Nachricht zu verkünden, und wir feiern in ihrer Küche mit Mentholzigaretten, wobei wir uns inmitten von Rauchwolken ausmalen, wie gekonnt wir unsere kapitalistischen Studenten in die Welt der russischen Sprache und Literatur locken werden.
Zu Hause fühle ich mich schon weniger unbekümmert. Abgesehen von dem Anfängerkurs, den ich in meinem abschließenden, sechsten Studienjahr zu unterrichten hatte, habe |319| ich noch nie vor einer Gruppe von Studenten gestanden. Erst recht nicht vor ausländischen Studenten, die wahrscheinlich an Unterrichtsmethoden gewöhnt sind, die so ungewöhnlich und fortschrittlich sind wie alles andere in Amerika auch. Von Emigranten erfahren wir – über eine komplizierte Kette von Verbindungen –, dass man in Amerika im März Pilze und im Dezember Erdbeeren kaufen könne; dass es keinen Mangel an Büchern gebe – ganz gleich welche; dass ein Polizist, der einen solchen Emigranten anhielt, weil er zu schnell gefahren war, denselben aufgefordert habe, aus seinem Wagen zu steigen, weil er ihn nicht vor seinem zehnjährigen Sohn habe demütigen wollen. Vor allem Letzteres klingt derart unglaublich und rührselig, dass ich kichern muss. Welche Art von Regierung macht sich Gedanken, ob sie die Gefühle ihrer Bürger, vor allem ihrer Kinder, verletzt? Jeder weiß, dass eine Regierung kein Mitgefühl haben, sondern regieren soll, wie Lenin im Jahr 1918 festgestellt hat. Unsere ist damit beschäftigt, die Meldevorschriften zu verschärfen, damit wir nicht einfach umziehen können, und Auswanderungsanträge abzulehnen, wodurch sichergestellt wird, dass die Antragsteller ihre Arbeit verlieren und öffentlich gedemütigt werden. Wenn unsere Gefühle nicht verletzt werden, hegen wir sogleich Misstrauen.
Ich stelle fest, dass ich so wenig über Amerika weiß, dass es mir richtig peinlich ist. Ich habe noch nie eine amerikanische Zeitung oder Zeitschrift gesehen; da sie als subversiv und gefährlich eingestuft sind, werden sie allesamt an der Grenze konfisziert. Das einzige amerikanische Englisch, das ich je gehört habe, war ein Interview mit Angela Davis, die an der Spitze der Kommunistischen Partei der USA steht, die ich kaum verstehen konnte, da sie ihre R’s auf eine Weise rollte, die unsere Phonetikdozentin als »vollkommen unbritisch« bezeichnete.
|320| Ich habe nur das gelesen, was wir alle im Unterricht gelesen haben – Hemingways ›A Farewell to Arms‹ (ein Anti-Kriegs-Manifest) und Steinbecks ›Of Mice and Men‹ (eine entlarvende Darstellung kapitalistischer Auswüchse). Alle übrigen Bücher, solche, die weder anprangern noch entlarven, treffen in unvorhersehbaren Abständen ein, wie Lieferungen von Mayonnaise oder importierten Schuhen in den hiesigen Läden. Vor Kurzem hat eine unserer Dozentinnen einen zeitgenössischen Roman mit dem Titel ›The Other Side of Midnight‹ von ihrer jüngsten Englandreise ins Land geschmuggelt, und im Moment warte ich darauf, es nach der gesamten Vollzeitbelegschaft des Englischen Seminars zu lesen. Nach meinen Berechnungen werde ich bei dem derzeitigen Tempo in etwa vier Wochen an der Reihe sein, da die erste Person, die drankam, das Buch in zwei Tagen durchgelesen hat.
Und ich habe noch nie einen leibhaftigen Amerikaner gesehen.
Der Kurs beginnt Mitte Juni. Ich unterrichte drei Mal pro Woche, von neun Uhr bis elf Uhr fünfzig, Grammatik und Konversation. Ich habe mich auf das zu erwartende beklommene Gefühl am ersten Tag eingestellt, das nur allzu vertraute Flattern im Bauch, das wir alle von den
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