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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Eigentlich würde sie gern erfahren, was Robert in Amerika macht. Wo er arbeitet, wo er wohnt, mit wem er lebt. Ganz profane Fragen, so praktisch wie meine Mutter.
    Er studiere in Texas, stelle gerade seine Doktorarbeit in Physik fertig. Robert reibt sich die Stirn und sucht nach den richtigen Konjugationen und Deklinationen. Wenn er nicht in Texas sei, dann sei er bei seiner Mutter in New Jersey. »New Jersey?«, fragt meine Mutter. In der Nähe von New York City, sagt er. Jenseits des Hudson. »Hudson?«, fragt meine Mutter. Das russische Wort dafür ist
gudzon
, das für Roberts Ohren komisch klingen muss, als sei der Hudson River eine gute Zone inmitten einer ansonsten verkommenen Gegend.
    Wir verstreichen Butter und löffeln Himbeermarmelade auf Brotscheiben, die so frisch sind, dass sie unter dem Gewicht nachgeben. Viel besser als das Essen in der Cafeteria, sagt Robert kauend und lächelt, obwohl ich nicht verstehe, weshalb Brot mit Datscha-Himbeermarmelade besser sein sollte als die mit echtem Fleisch gefüllten Kohlrouladen für den Lehrkörper oder die randvoll mit Schlagsahne gefüllten Schüsseln.
    Während Robert nach Verb-Endungen sucht, wirft meine Mutter ihm unmissverständliche Blicke zu. Sie versucht herauszufinden, was sie von diesem Besuch bei uns zu Hause halten soll, weil sie nur zu gut weiß, dass sie von mir nicht die Wahrheit erfahren wird. Es ist ein Spiel, das wir schon so lange spielen, wie ich zurückdenken kann   – dem
wranjo
-Spiel, das |336| wir alle mit dem Staat spielen, nicht unähnlich. Ich tue so, als hätte die Tatsache, dass ich Robert mit nach Hause gebracht habe, nichts zu bedeuten, und sie tut so, als würde sie mir glauben. Sie weiß, dass ich ihr nicht verraten werde, was ich tatsächlich von Robert halte, und ich weiß, dass sie weiß, dass ich es weiß.
    Dabei weiß ich selbst noch gar nicht so genau, was ich von Robert halten soll.
     
    »Stell dich nicht so dumm an«, sagt Nina. »Eine solche Chance hat man nur einmal im Leben.«
    Am Samstag ist das russische Sprachprogramm zu Ende, und die Studenten fliegen zurück in die Vereinigten Staaten. Robert hat, wie ich gehofft und bang ersehnt habe, gesagt, er finde es schade, abreisen zu müssen. »Ich möchte mich nicht von dir verabschieden«, stammelte er auf Russisch, auf der Suche nach der korrekten grammatikalischen Struktur.
    »Ich finde es auch schade, dass du abreist«, sagte ich und seufzte.
    »Vielleicht kann ich ja in sechs Monaten wiederkommen«, schlug er vor. »Nach dem Herbstsemester.«
    »Hoffentlich. Darüber würde ich mich sehr freuen«, sagte ich. »Wenn du wiederkommst.«
    Ich erzähle Nina davon, ohne meinen absichtlichen Seufzer zu erwähnen. »Wenn ich könnte«, sagt sie, »würde ich mich mit dem erstbesten verdammten Flieger auf und davon machen. Dieses Land ist verloren und wir mit ihm. Ich würde überallhin gehen. Sogar nach Patagonien, wenn ich könnte.«
    Aber sie weiß, dass sie es nicht kann. Sie hat gerade einen Ingenieur namens Rudik geheiratet, in den sie sich unsterblich verliebt hat, und jetzt leben sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder in einer Zweizimmerwohnung. Ich habe sie vor Kurzem |337| besucht, als Ersatz für die Hochzeitsfeier, die es nicht gab. Nina hat ein sagenhaft gutes Essen gekocht, und wir haben eine von mir mitgebrachte Flasche bulgarischen Rotwein getrunken, den wir in einem Topf mit Zucker und Apfelscheiben aufgewärmt haben, um den sauren Geschmack loszuwerden. Rudik war eher zurückhaltend, nicht gerade ein überzeugender Gastgeber in der Wohnung seiner Schwiegereltern, nicht gerade der leidenschaftliche Romantiker, als den Nina ihn beschrieben hatte. Er zeigte mir einen riesigen gläsernen Behälter mit Spiralen, den er bestimmt aus einem chemischen Labor an seinem Arbeitsplatz hatte mitgehen lassen, in dem er aus Wasser, Zucker und Hefe etwas braut, das er
idealni samogon
, perfekten Schwarzgebrannten, nannte.
    »Tu alles, was notwendig ist«, sagt Nina, »um rauszukommen.«
     
    Robert möchte eine der Weißen Nächte erleben, und kurz vor seiner Abreise ziehen wir los. Wir Einheimischen sind natürlich an die Weißen Nächte gewöhnt; wir schließen die Vorhänge und schlafen problemlos durch. Die Touristen meinen jedoch, es gehöre dazu, sich zu beklagen, dass sie kein Auge zugetan hätten, weil ihnen die Sonne mitten ins Gesicht geschienen habe. Beeinflusst von dem romantischen Unfug auf Ansichtskarten müssen sie sich unbedingt nach Mitternacht in

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