Goodbye Leningrad
Scharen an die Newa begeben, um staunend mit anzusehen, wie die Brücken sich langsam gen Himmel öffnen, damit die Schiffe auf ihrem Weg zur Ostsee durch das Stadtzentrum fahren können.
Robert und ich gehen auf dem falschen Flussufer spazieren, von dort ist wegen der geöffneten Brücken vor drei Uhr morgens keine Rückkehr möglich. Die Nadel der Peter-und-Paul-Kathedrale schimmert in den ersten Strahlen der Sonne, |338| die wie üblich eine Stunde nach Mitternacht aufgeht, eine kupferfarbene Scheibe, die die ziegelfarbenen Rostra-Säulen in zarten Rosatönen erstrahlen lässt. Wir beobachten, wie sich die Palastbrücke in der Mitte teilt und knarrend in den blassen Himmel erhebt. Etliche Schulabgänger strömen an uns vorüber – lauter herausgeputzte Siebzehnjährige in von ihren Müttern genähten Kleidern und aus den Familienschränken geliehenen Anzügen, die ihre frisch erworbene Freiheit feiern. Ihr Überschwang tanzt auf dem stählernen Brückengeländer, wird von den steinernen Uferbefestigungen zurückgeworfen.
Robert hält meine Hand und legt dann einen Arm um meine Schultern. Ich spüre, wie mein Ohr an seinen Wollpullover gedrückt wird, der einen fremdartigen, antiseptischen Geruch hat. Ich weiß nicht, was ich möchte – dass er mich noch inniger umarmt oder lieber loslässt. Sollte er mich noch inniger umarmen, besteht vielleicht die Aussicht, dass ich einen Auslandsflug ergattere und hier rauskomme, wie Nina es mir rät. Sollte er mich loslassen, würde ich in die Wohnung meiner Mutter, in unser Leben der Verstellung, des
wranjo
zurückkehren. Ich würde wieder in unseren Hof zurückkehren, der ein viel geeigneteres Symbol für unser hiesiges Leben ist als die allgegenwärtigen Hammer und Sichel: die zerbröckelnde Fassade mit verrammelten Türen und stinkenden Mülltonnen dahinter.
Robert nimmt mich noch fester in die Arme und berührt mit seinen Lippen meine Schläfe, und so stehen wir wie so viele andere Paare um uns herum da und starren auf die offene Brücke mit ihren gen Himmel gereckten Armen.
Gegen vier Uhr morgens, als die Sonne am Schrank vorübergeschlichen ist und auf dem Küchenherd funkelt, betrete ich auf Zehenspitzen den Flur unserer Wohnung. Meine Mutter schlurft in ihrem geisterhaften Morgenmantel zum Bad, wobei |339| ihr im Schlaf in Unordnung geratenes Haar in einem dünnen Zopf über ihren Rücken gleitet. Robert und ich haben uns auf dem Dekabristen-Platz, auf halbem Weg zwischen seinem Wohnheim und unserem Wohnblock, voneinander verabschiedet. Er hätte mich gern bis nach Hause begleitet, aber ich wollte sichergehen, dass er sich nicht verläuft.
»Warum bist du so spät noch auf?« Meine Mutter blinzelt in meine Richtung. Sie braucht eine volle Minute, um zu erkennen, dass ich Straßenkleidung anhabe. »Wo bist du gewesen?« Das Licht fängt sich in ihren Augen, während sie mit schwerfälligen Schritten auf mich zukommt. »Es ist mitten in der Nacht«, sagt sie und schirmt ihr Gesicht gegen das Sonnenlicht ab.
Ich habe meiner Mutter nichts von Robert erzählt, so wie ich ihr auch sonst nichts aus meinem Leben erzählt habe, was von Bedeutung wäre. Ich möchte mir nicht ihre Vorträge oder ihre Schuldgefühle einflößenden Tiraden oder Ratschläge anhören. Was könnte meine Mutter, die zusammen mit dem sowjetischen Staat geboren wurde, mir schon zu einer beginnenden Liebesgeschichte mit einem Amerikaner raten? Welchen Rat könnte sie mir überhaupt geben? Bei unseren kurzen Zusammentreffen informiere ich sie über meine Kurse an der Universität und meine Privatstunden – allerdings fasse ich immer nur die Ergebnisse zusammen und spreche nie über das, was sich wirklich ereignet hat. Ich zähle ihr die Seminare auf, die ich ausgewählt habe, die neuen Schüler, die ich gewonnen habe. Sie scheint zu denken, sie habe mein Leben unter Kontrolle.
»Es sind die Weißen Nächte«, sage ich und blicke aus dem Fenster auf die Flut leuchtender Dächer, die auf den Horizont zu wogt. »Die ganze Stadt ist wach. Alle sind auf der Straße, alle sind verliebt.«
»Die anderen sind mir egal«, sagt meine Mutter. »Ich mache |340| mir um dich Sorgen. Du bist meine Tochter, und um vier Uhr morgens solltest du zu Hause in Sicherheit sein. Wo warst du?«
Mich übermannt eine Woge der Erschöpfung, eine einschläfernde Ermattung. Ich war so sehr darauf bedacht, meine Seele in zwei Hälften zu teilen und die echte Hälfte für mich zu behalten, verborgen vor der
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