Goodbye Leningrad
Außenwelt, verborgen vor meiner Mutter, die sich wünscht, dass ich in Sicherheit bin.
»Hatte eine Verabredung«, sage ich und kratze mit dem Fingernagel an etwas herum, das auf der Wachstuchdecke klebt. »Mit einem Ausländer, einem Amerikaner. Mit dem, der sich unsere Wohnung angesehen hat.«
Ich sehe, wie meine Mutter nach Luft schnappt, während ihr Gesicht vor unterdrückten Tränen zu zucken beginnt.
»Mit einem Amerikaner?«, presst sie hervor, als seien allein die Wörter schon schändlich genug. »Amerikaner« und »Verabredung« in ein und demselben Satz sind, wie ich eigentlich hätte wissen müssen, an sich schon eine ziemlich heftige Zusammensetzung mit explosiven Konsequenzen. Sie sieht mich mit finsterer Miene an und schluckt die aufsteigenden Tränen herunter. »Gibt es denn nicht genug russische Jungs? Nette Uniabsolventen?«
Sie wartet auf meine Reaktion, auf irgendein Anzeichen, dass ich mich nicht gänzlich der Normalität verschließe. Aus dem Augenwinkel sehe ich sie nachdrücklich schlucken, während ich bedächtig fortfahre, die Blumen auf dem Wachstuch mit dem Fingernagel nachzuzeichnen.
»Was ist nur mit dir los?«, schreit sie. »Du bist genau wie dein Vater – stur wie ein Esel.«
Seltsamerweise erlebe ich die ganze Szene wie aus der Ferne und verfolge die Handlung von den Kulissen aus, wie ein Regisseur während einer Vorstellung. Meine Mutter, die tragische Heldin des zweiten Aktes, macht einer verlorenen Tochter Vorhaltungen. |341| Mein Mund schmeckt noch immer nach Robert; amerikanisches Knutschen unterscheidet sich in nichts von dem hiesigen. Obwohl die Stimme meiner Mutter so bebt, als würde sie im nächsten Augenblick losweinen, muss ich unweigerlich an einen Witz denken, den Nina mir erzählt hat:
Eine Mutter ertappt ihre Tochter im Bett mit einem Mann und jammert: Demnächst fängt sie noch an zu rauchen.
Auf dem Weg zur Küchentür drehe ich mich zu meiner über den Tisch gebeugten Mutter um und fahre sie mit messerscharfer Stimme an.
»Übrigens rauche ich auch«, sage ich und schließe die Tür hinter mir.
Es ist Wut, die aus mir spricht: über meine selbstgerechte Mutter, die sich partout weigert, aus dem Fenster zu blicken und zu erkennen, dass sich am Horizont keine leuchtende Morgenröte abzeichnet; über mein niederträchtiges Land, das sie motiviert, zu Stahl geschmiedet und enttäuscht hat.
|342| 18
WARTEN
Liebe Lena
, schreibt Robert aus Kopenhagen, wo er auf seinem Rückflug in die Vereinigten Staaten umsteigen musste.
Ich bin am Flughafen, warte auf meinen Flug und denke an Dich. Hier gibt es keine Grenzkontrolleure mit goldenen Epauletten und keine Gewehre, aber in allen Läden werden Salzheringe verkauft, genau so wie in Leningrad. Werde aus den Staaten wieder schreiben.
Ich erhalte die Ansichtskarte erst einen Monat später, als Robert wieder in New Jersey oder Texas ist und dänische Heringe längst vergessen hat, nicht jedoch Leningrad. Kurz nach der Karte trifft ein länglicher Umschlag mit meinem in sorgfältiger, ausländischer Handschrift geschriebenen Namen ein, und von da an liegt jede Woche ein Brief in unserem Briefkasten.
Ich vermisse Dich
, schreibt er auf Englisch und auf Russisch. Er möchte, dass ich ihm auf Russisch antworte, damit er sich in Grammatik üben kann.
Habe mich bereits wegen meiner Reise im Dezember erkundigt
, schreibt er.
Ein Visum zu beantragen, ist mühsam, damit muss man zeitig anfangen. Es ist schwierig, jemanden in der sowjetischen Botschaft in Washington zu fassen zu bekommen – niemand geht ans Telefon.
Nina lacht nur, als ich ihr von den Telefonen der Botschaft erzähle. Im August werden wir in der Philologischen Fakultät, an der wir gerade unseren Abschluss gemacht hatten, vorübergehend |343| als Vollzeitlehrkräfte beschäftigt. Natalija Borisowna klopft uns auf die Schultern und sagt, unsere Mitarbeit beim amerikanischen Programm im Sommer habe unsere Chancen verbessert. Nach einigen Jahren Teilzeitunterricht könnten wir, sofern wir uns im Komsomol und bei Gewerkschaftsaktivitäten engagierten und falls irgendein Fakultätsmitglied tot umfalle oder in Rente gehe, durchaus als feste Lehrkräfte an der Universität infrage kommen. Es sei zugegebenermaßen höchst unwahrscheinlich, flüstert Natalija Borisowna, aber falls je eine solche Stelle frei werden sollte, würde sie nur uns empfehlen. »Wir sind Ihnen sehr dankbar«, sagt Nina, die in jeder Lebenslage das Richtige zu sagen weiß. »Es wird
Weitere Kostenlose Bücher