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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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durfte   – worauf Robert seine Lippen zu einem abfälligen Lächeln verzog. »Ikonen, zum Beispiel«, sagte ich, um das Unbestreitbare heranzuziehen, wobei ich an Marinas erste Kinorolle in der Verfilmung von Rimski-Korsakows Oper ›Die Zarenbraut‹ denken musste. Der Film wurde in einem winzigen Dorf in Zentralrussland gedreht, dessen Kirche dank der kenntnisreichen Filmcrew im Nu seiner religiösen Artefakte entledigt worden war.
    »Ikonen?«, fragte Robert und verdrehte die Augen. »Wie sollte sich ein Tourist wohl eine Ikone verschaffen?«
    |346| Er hatte recht. Gewiss nicht in einem winzigen, unter Birken und Tannen versteckten Dorf im europäischen Teil des Landes, wo es noch ein oder zwei Babuschki geben mochte, die in ihrer vorrevolutionären Unkenntnis an der Vorstellung vom Göttlichen festhielten. Natürlich würde kein Ausländer je ein solches Dorf aufsuchen dürfen, selbst wenn er bereit wäre, für die Fahrkarte in der harten, verlässlichen Währung eines kapitalistischen Landes zu zahlen.
    In diesem Augenblick wurde mir die Vergeblichkeit meiner Argumentation bewusst, die Vergeblichkeit jeglicher heutigen oder zukünftigen Diskussion, die Robert und ich miteinander führen würden. Unser Problem ist, dass sich unter seinem unrussischen lockigen Haar ein amerikanisches Hirn befindet, das sich von meinem russischen grundlegend unterscheidet. Wenn ich uns auf dem Darwin’schen Baum des Lebens platzieren müsste, würde Robert am Ende des obersten Astes hocken, während ich von einem Stumpf irgendwo an der Seite herunterbaumelte. Die Tatsache, dass wir jeweils die Sprache des anderen sprechen, ist für unser gegenseitiges Verständnis ebenso unerheblich wie das bedeutungsschwangere Schweigen und die vielsagenden Blicke meiner Mutter.
    Auf dem Schreibtisch, an dem ich sitze, befindet sich ein Foto meiner Mutter im Garten meiner Großeltern in Stankowo, auf dem sie neben einem Apfelbaum steht und einen Ast in die Höhe hält, der sich unter der Last der Äpfel biegt. Neben ihr steht meine lächelnde Großmutter, deren Gesicht von lauter Falten durchzogen ist. Das Foto wurde vor sechs Jahren aufgenommen, kurz bevor sie »wegen ihres Herzens« starb. So drückte sich meine Mutter, die Anatomieprofessorin, mit einer für sie untypischen Ungenauigkeit aus: Sie ist wegen ihres Herzens gestorben, wie die meisten Russen. Ihr Tod kam nicht überraschend, in einem Alter, da die meisten unserer Landsleute |347| bereits auf dem Friedhof ruhen, genau ein Jahr, bevor Deduschka, mein Großvater, ebenfalls wegen seines Herzens starb.
    Ich weiß nicht, warum ich immer wieder das Foto von meiner Großmutter betrachte, ihre lächelnden Augen hinter den runden Brillengläsern, die schwarz-weißen Äpfel an herabhängenden Ästen, den Garten, dem gegenüber ich stets dieselben Vorbehalte empfand wie gegenüber unserer eigenen Datscha. Ich spüre förmlich den weichen, abgetragenen Baumwollstoff des Kleides, das sie auf dem Foto trägt, des Kleides, an das ich mich plötzlich so gut erinnere, dass sein trockener Geruch nach dem Holz ihres Eichenschranks mir in die Nase steigt.
Mamotschka
, wie meine Mutter sie nannte, die Verkleinerungsform von
mama
– eine eher neutrale Anrede und nicht gerade ein Kosename   –, wie ich auch meine eigene Mutter nenne. Was würde Großmutter, mit Armen so weich wie ihr Kleid, von einem Umzug nach Amerika halten? Was würde sie von mir halten? »Alles geschieht zum Besten«, pflegte sie mit ihrer ruhigen, perlenden Stimme zu sagen, wann auch immer etwas Unerfreuliches geschah.
     

    Vielleicht kann ich Dich ja auch als meine Verlobte einladen
, schreibt Robert.
Ich habe mich beim Außenministerium erkundigt und dort erfahren, dass es ein solches Programm gibt. Du kannst herkommen und bis zu einem Jahr bleiben, um herauszufinden, ob es Dir hier gefällt.
    Ich las immer wieder das Wort Verlobte, das furchterregend und zugleich aufregend klingt. Es klingt, als entstamme es |348| einem altmodischeren Leben, der Welt Puschkins und Tolstois, als die Frauen sich noch vor ihrer Heirat verlobten, nachdem sie auf ihrem ersten Ball mit irgendeinem Offizier getanzt hatten und dann treu auf ihn warteten, bis er schließlich aus einer Schlacht gegen die französische Armee oder aus dem Exil im Kaukasus zurückkehrte.
    Ich las erneut die Worte »ob es Dir hier gefällt«. Ich weiß, ich würde nur eine Scheinverlobte sein, aber würde ich als solche tatsächlich mit eigenen Augen sehen, wovon wir

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