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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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daran gedacht hat, sein alltägliches Leben hinter sich zu lassen: den Direktorenschreibtisch und die Datscha, die er nicht streichen wollte, und die »Kuhfraß«-Salate, die meine Mutter ihm zurechtschnippelte. Mein Vater war ein Einzelgänger, ein Mann ohne Vergangenheit; er hätte in seinem Boot immer weiter dahingleiten, immer weiterrudern können. War das der eigentliche Grund, weshalb er so gern angelte   – die Möglichkeit, vom Ufer weg in Richtung Horizont zu rudern?
     
    Robert trifft am 20.   Dezember 1979 ein. Über die Universität hat er irgendwie arrangiert, dass er wieder im selben Wohnheim einquartiert wird, in dem er schon im Sommer untergebracht war. Ich hole ihn am Flughafen ab, und als ich ihn durch die Glasscheibe hindurch erspähe, wie er gerade seinen Koffer für einen Zollbeamten öffnet, sieht er in seinem Winterparka alles andere als vertraut aus, ein seltsamer Ausländer mit Korkenzieherlocken und albernen dicken Brillengläsern. Ein seltsamer Ausländer, mit dem nunmehr ein seltsamer Begriff verbunden ist   – Verlobter. Als er mit durchwühltem Koffer aus dem Zollbereich tritt, lächelt er und küsst mich auf die Wange. »Ich hab dir was mitgebracht«, sagt er und zieht einen Seidenschal hervor.
    Als ich in meinem letzten Brief schrieb, dass unsere Regierung kein Visum für Verlobte ausstelle, erwiderte Robert mit der Direktheit eines Wissenschaftlers:
Lass mich wissen, was zu tun ist, um Dich hierherzubringen.
Und obwohl ich nicht genügend Zeit hatte, um ihm noch vor seiner Ankunft zu antworten, ahnte ich, dass er die Antwort genauso wusste wie ich auch. Er wusste die Antwort damals und weiß sie auch jetzt, da er sich aus dem Zollbereich, in dem sich lauter aufgeregte Touristen |354| und selbstgefällige Männer in schlecht sitzenden grauen Uniformen drängen, seinen Weg bahnt. Selbst für einen Besucher ist es offenkundig, dass es nur zwei Wege gibt, dieses Land zu verlassen: Entweder fließt jüdisches Blut in deinen Adern oder du heiratest einen Ausländer.
    Roberts Ankunft ist für alle ein mögliches Anzeichen dafür, dass wir vorhaben zu heiraten. Warum sonst sollte er freiwillig über die von der sowjetischen Botschaft in Washington errichteten Hürden springen und sich um den halben Erdball bis ins minus fünfundzwanzig Grad kalte, unter einer Schneeschicht liegende Leningrad aufmachen?
    Es ist ein heikles Thema, das ich Robert gegenüber tunlichst vermeide. Gleichzeitig versuche ich aber auch, eher unbeholfen, es anzusprechen, da er nur zwei Wochen lang hier ist und wir nicht viel Zeit haben. Sollte er nach Texas zurückreisen, ohne ein Wort darüber verloren zu haben, dann könnte ich genauso gut in unsere Wohnung zurückkehren und meine Mutter nach ihrem Borschtsch-Rezept fragen.
    Robert scheint es genauso unangenehm zu sein wie mir, deshalb verbringen wir unsere ersten beiden gemeinsamen Tage mit schweigenden Besichtigungen und wiederholten Klagen über die Kälte.
    Am dritten Tag sagt Robert endlich, was ich mir insgeheim erhofft habe. Wir gehen in Richtung unseres Wohnblocks, durch eine dermaßen eisige Luft, dass es sich anfühlt, als würden Glassplitter in meinem Hals kratzen. Marina hat einen Topf saures
Kohl- schtschi
nach ihrem eigenen Rezept gekocht, gegen drei werden wir in unserer Küche erwartet.
    »Wenn du dieses Land verlassen möchtest«, sagt er, während wir uns aneinander festklammern, da der Bürgersteig vollkommen vereist ist, »werde ich dich heiraten. Das werde ich tun, wenn du dadurch hier rauskommst.« Er ist beherrscht; er reibt |355| sich unter seinem Hut die Schläfe; er klingt so edel wie eine Figur von Tolstoi. »Du musst aber bitte Verständnis dafür haben, dass ich eigentlich noch nicht bereit bin zu heiraten. Ich weiß nicht, ob ich es je sein werde.« Ich werfe einen Blick auf sein ernstes, ausländisches Profil, das meinem Gesicht so nah ist, dass ich in seinem Schnurrbart winzige gefrorene Tropfen erkennen kann. »Ich möchte mich auch mit anderen Frauen treffen«, sagt er. »Ich möchte mich weiterhin mit Karen treffen.«
    Ich muss verblüfft ausgesehen haben, denn Robert bleibt stehen, nimmt seine Brille ab und fängt an, sie mit seinem Schal abzureiben. »Ich kenne Karen schon lange«, sagt er. »Seit ich in Austin bin, seit vier Jahren. Sie ist Professorin am Slawischen Seminar der Universität von Texas. Wir sind gute Freunde, und ich möchte sie gern weiterhin treffen.«
    Ich bleibe ebenfalls stehen und hauche in meine

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