Goodbye Leningrad
bislang nur Bruchstücke aus Büchern erhaschen konnten? Würde ich tatsächlich durch den Spiegel treten dürfen und mich fragen, ob es mir dort gefällt? Ich weiß, dass in unserem abgeschotteten Universum ein Ausreisevisum für eine Verlobte genauso fern jeglicher Vorstellung ist wie das für eine Freundin, aber dennoch sitze ich am Schreibtisch meiner Mutter und denke an Amerika. Es ist natürlich pure Zeitverschwendung: Die Bilder sind verschwommen und einfarbig; sie wandeln sich mit jedem Atemzug, denn wie unsere lichte Zukunft sind auch sie auf nichts gegründet. Ich versuche mir vorzustellen, wie Robert wohl wohnen mag, doch kommen mir nur Leningrader Höfe in den Sinn und abblätternde Fassaden mit gelben Fenstern, die in die Dämmerung spähen. Ich versuche, mir einen amerikanischen Flughafen vorzustellen, sehe jedoch nur den Schuppen von Pulkowo vor mir, mit zwei rostigen Toiletten und einem Dutzend Flugzeugen, die auf dem mit Unkraut überwachsenen rissigen Asphalt verstreut stehen.
Nachdem ich aufgehört habe, das Unvorstellbare heraufzubeschwören, gehe ich zur Arbeit. In den Fluren der Katakomben meiner Universität, wo ich meine acht Kurse von Studenten im ersten und zweiten Studienjahr in Grammatik und Lektüre unterrichte, läuft mir eine ehemalige Kommilitonin über den Weg, an deren Namen ich mich nur mit Mühe erinnere. Sie |349| lächelt mich mit gefletschten Zähnen an, wobei sie mich auf ihren hohen Absätzen weit überragt, und ich erinnere mich daran, dass sie im Abschlussjahr um ein Haar von der Uni geflogen wäre, weil sie kurz zuvor begonnen hatte, für das staatseigene
Haus der Mode
als Model zu arbeiten. »Ich heirate«, verkündet sie, sobald sie mich in eine Ecke hinter meinem Unterrichtsraum gedrängt hat. »Mein Verlobter ist gerade mit dem Flugzeug aus Düsseldorf gekommen.« »Aus Deutschland?«, frage ich törichterweise. »Natürlich aus Deutschland«, kichert sie und lässt makellose Zähne aufleuchten, die noch nicht von der sowjetischen Zahnheilkunde verunstaltet worden sind. »Mir ist nichts eingefallen, was er mitbringen könnte, deshalb hat er mir Tenniskleidung und einen Schläger mitgebracht. Ich frage ihn immer wieder, wo wollen wir denn Tennis spielen?«, erzählt sie lachend.
Ja, wo? Ich denke, sie hätte sich lieber etwas Praktischeres wünschen sollen, wie etwa Stiefel oder einen Wintermantel. Oder wenigstens Jeans. Als einige Monate zuvor ein amerikanischer Film mit dem Titel ›The Domino Principle‹ (›Das Domino-Komplott‹) in unseren Kinos anlief, staunten alle darüber, dass sogar die Insassen amerikanischer Gefängnisse Bluejeans tragen. »Wenn sie ihre Häftlinge in Jeans kleiden, kann das Leben dort nicht allzu schlecht sein«, verkündete meine Mutter beim Verlassen des Kinos, ein Strohhalm der Hoffnung, an dem sie sich festhält. Während ich die Bewegungen der leuchtend roten Lippen meiner Kommilitonin beobachte, muss ich unweigerlich daran denken, wie dumm sie doch ist, dass sie sich von ihrem Verlobten keine Jeans gewünscht hat.
Ich denke auch, wie seltsam es ist, dass er sie überhaupt fragen musste, was er ihr mitbringen soll. Er ist doch bestimmt schon mal hier gewesen und hat gesehen, was es in unseren Läden zu kaufen gibt – nichts. Über ein Paar Strumpfhosen |350| würde sich ein Mädchen wahnsinnig freuen. Winterstiefel, die nicht wie bäuerliche
walenki
aus Filz aussehen, würden sie in ekstatische Schreie ausbrechen lassen. Über eine Jeansjacke würde sie Freudentränen vergießen. Aber Ausländer begreifen das nicht. Sie sträuben sich hartnäckig gegen praktische Geschenke und bringen stattdessen tütenweise aromatisierten Tee mit oder Tischtücher, die nicht auf russische Tische passen, oder komplette Tennis-Outfits mit passendem weißem Stirnband.
»Darfst du deinen Verlobten in Deutschland besuchen?«, frage ich. Ich kann ebenso praktische Fragen stellen wie meine Mutter. »Ich habe gehört, dass man einen Besuch machen kann, noch bevor der Ausreisestempel in den Pass kommt.« Natürlich habe ich nichts dergleichen gehört, aber ich möchte zumindest eine andere Meinung einholen, bevor ich Robert antworte.
Meine ehemalige Kommilitonin runzelt einen Moment lang die Stirn, als sei sie völlig verwirrt. »Warum sollten sie das gestatten?«, fragt sie kopfschüttelnd, so dass Strähnen ihres dichten, mustergültig frisierten Haars in ihr Gesicht fallen. »Wenn sie das gestatten würden, kannst du dir vorstellen, was dann aus
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