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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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diesem Fachbereich würde?«
    Das kann ich, deshalb nicke ich.
    Ich schreibe Robert, was ich erfahren habe. Dann denke ich an unsere unterschiedlichen Gehirne und füge noch ein paar eigene direkte, unverblümte Sätze hinzu:
Die Verlobung ist wie die Freundschaft eine unverbindliche Beziehung, die im sowjetischen Gesetz nicht vorgesehen ist. Nur im Westen, wo das Individuum das Kollektiv zu übertrumpfen scheint, kommt sie als gesetzliche Grundlage für eine so ernsthafte Angelegenheit wie ein Visum in Betracht
. Ich schreibe dies auf Englisch, um sicherzugehen, dass er auch jedes Wort versteht. Dann schreibe |351| ich noch auf Russisch über profanere Dinge: über die Kurse, die ich gebe, und den frühen Novemberschnee, der auf den Demonstrationszug gefallen ist, der anlässlich eines weiteren Jahrestags der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution unter unseren Fenstern vorbeizog.
    Auf den Universitätsfluren begegne ich zwei weiteren ehemaligen Kommilitoninnen: Natascha und Ljuba. Auch sie werden Ausländer heiraten: Natascha einen Finnen, Ljuba einen Schweden. Natascha erzählt mir, ihr Verlobter sei bei der Abreise aus Leningrad am Zoll in eine kleine Seitenkammer geführt und zwei Stunden lang eingesperrt worden, so dass er seinen Flug nach Helsinki verpasst habe. Ljuba erzählt mir, ihr sei der Zutritt zu einem Hotel für Ausländer, in dem ihr Schwede untergebracht gewesen sei, verwehrt worden, weil der Portier ihr unterstellt habe, sie sei eine Prostituierte   – dabei wisse doch jeder, dass es in unserem Land keine Prostituierten gebe, genauso wenig wie Obdach- oder Arbeitslose. »Solche sozialen Missstände machen allein dem Westen zu schaffen«, sagte ich zu Ljuba, »wo sie wie Maden am Fleisch ungerechter Gesellschaften nagen und zu deren allmählicher Fäulnis und unmittelbar bevorstehendem Ende beitragen.« Ich wollte ihren Lippen ein leises Lächeln entlocken, da sie zu schniefen begonnen hatte, als sie mir erzählte, der Portier habe ihr, als sie ging, ins Hinterteil gezwickt.
    Ich lausche aufmerksam diesen exklusiven Informationen aus erster Hand und wünschte, ich könnte an der Weisheit der geheimnisvollen Schwesternschaft teilhaben, die, was wohl kaum überraschend ist, im Fachbereich Fremdsprachen aufkeimt. Demnach haben uns die Professoren für Wissenschaftlichen Kommunismus zu Recht in ihren Seminaren terrorisiert: Von jemandem, der eine Fremdsprache spreche, sei nichts Gutes zu erwarten. An uns sei Hopfen und Malz verloren, wir seien |352| völlig verdreht; wir seien unzuverlässig und irregeleitet. Wir wüssten nicht, was gut für uns sei. »Wenn alles gut ist, sucht man nicht nach Besserem«, lautet ein russisches Sprichwort, das meine Mutter mit Vorliebe zitiert.
    Aber all meine ehemaligen Kommilitoninnen heiraten Europäer. Finnland ist nur eine Busfahrt entfernt; Schweden liegt gleich jenseits des Meerbusens, seine Nähe war der Grund für den Bau der Peter-und-Paul-Festung; Deutschland wurde 1945, wie jedermann weiß, zu Fuß erreicht. Amerika hingegen befindet sich auf der anderen Seite des Erdballs, in derselben Hemisphäre wie Papageien, mit Federn geschmückte Indianer und Brasilien. Ich könnte meiner Mutter ebenso gut erzählen, ich hätte vor, durch ein Wurmloch zu reisen.
    Wie gewöhnlich erzähle ich meiner Mutter nichts. Ich weiß, was sie denkt, und sie weiß, dass ich es weiß. Sie reicht mir längliche amerikanische Briefumschläge, die sie aus dem Briefkasten holt. Sie wirft scheppernd Besteck in die Küchenschublade und legt meiner Freundin Nina zur Last, mich in das amerikanische Programm gelockt zu haben. Wenn sie sich nach Robert erkundigt, sage ich, er werde wahrscheinlich zu Silvester wiederkommen. Ich weiß, dass sie weiß, warum er herkommt, aber sie möchte, dass ich es ausspreche. Ich erzähle ihr, er studiere russische Bräuche und wolle unbedingt einen echten Neujahrsbaum sehen.
    Was hätte mein Vater zu Robert gesagt? Wäre er desillusioniert genug gewesen, um diese etwaige Heirat für einen positiven Schritt zu halten? Oder hätte er wie meine Mutter gejammert und sich deswegen Sorgen gemacht? Ich sehe ihn vor mir, wie er in einem Boot sitzt und auf den Finnischen Meerbusen hinausrudert, in die trüben Gewässer, die uns vom Westen trennen. Ich frage mich, ob er wohl je daran gedacht hat, diese unsichtbare Linie zu überqueren, in Richtung der |353| großen schwarzen Schiffe zu rudern, die langsam am Horizont dahinziehen; ich frage mich, ob er wohl je

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