Goodbye Leningrad
gekochter Suppe. »Ich freue mich für dich«, sagt sie, während |388| ihr gewölbter Bauch gegen mein Kleid drückt. »Herzlichen Glückwunsch.«
Dann erscheint ein Fotograf, der uns alle auf die Haupttreppe scheucht, damit er uns je nach Wichtigkeit des jeweiligen Gastes auf verschiedenen Stufen anordnen kann, als schritten wir gerade die Marmorstufen hinunter. Robert und ich sollen uns neben das geschnitzte Geländer stellen, meine Familie hinter uns, meine Freunde darüber auf den oberen Treppenabsatz. Der Fotograf, ein kleiner Mann in zerknittertem Anzug, läuft schwitzend zwischen unserer Gruppe und der Kamera hin und her und ruft uns seine Anweisungen zu. Dabei drückt er die Luft zwischen seinen Handflächen zusammen, um uns zu bedeuten, näher zusammenzurücken.
Ich bin dankbar für den ganzen Wirbel. Ich bin froh, dass meine Tante sich über die leeren Sektflaschen beklagt und nicht darüber, dass ich keinen von »unseren russischen Burschen« heirate. Ich bin froh, dass meine Mutter sich wegen des Fotoalbums Sorgen macht und nicht wegen meiner Abreise. Ich drücke Roberts Hand, als meine Tante die Arme ausstreckt, um ihn bei den Schultern zu fassen und drei Mal auf die Wangen zu küssen, ein alter russischer Brauch, den sie nun einem unwürdigen Ausländer zuteil werden lässt. Was auch immer sie von amerikanischer Apartheid oder von Robert halten mag, von nun an gehört er zur Familie, und sie hat keine andere Wahl, als ihm mit derselben Großzügigkeit zu begegnen wie jedem anderen Angehörigen auch, trotz seines lockigen jüdischen Haars und seiner Armbanduhr, auf der das unverständliche Wort »Seiko« zu lesen ist.
In unserem Kühlschrank stehen ein Eintopf mit Fleisch und ein Dutzend Salate. »Wir fahren mit dem Taxi«, sagt meine Mutter und zeigt auf zwei Wagen, die vor dem Eingang stehen, die Motoren im Leerlauf. Ihr wäre ein weißer Wolga vom |389| Hochzeitspalast – mit zwei ineinander verschlungenen goldenen Ringen auf dem Dach und einer Puppe im weißen Kleid auf der Kühlerhaube – lieber gewesen, aber das ging mir dann doch zu weit.
»Wo ist dein Mantel?«, fragt meine Mutter stirnrunzelnd. »Du wirst dich verkühlen und krank werden.« Ich weiß nicht, wo mein Mantel ist, genauso wenig weiß ich, was mit meiner Heiratsurkunde und meinem abgestempelten Pass geschehen ist, die inzwischen für mein Leben sehr viel bedeutsamer sind als irgendwelche Mäntel oder anderen warmen Sachen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, unterhalb des granitenen Ufers, umspülen die zinkfarbenen Fluten der Newa die steinernen Stützpfeiler der Liteini-Brücke, und die letzten Eisbrocken tanzen wie riesige, an unsichtbaren Angelschnüren befestigte Schwimmer auf und nieder. Ein schneidend kalter Wind weht vom Fluss herüber; meine Mutter hatte vollkommen recht mit dem Mantel, wie ich mir widerstrebend eingestehen muss.
Auf dem Rücksitz des Taxis mustern Robert und ich unsere Hände mit den Ringen. »In Amerika ist es die Linke«, sagt er, und ich komme mir dumm vor wegen des Zwischenfalls auf dem Podium. »Ich frage mich, wie die Frau reagiert hätte, wenn wir die Ringe auf unsere linken Ringfinger gesteckt hätten.«
Auf eine so ausgefallene Idee, die Vorschriften derart bloßzustellen, kann nur jemand kommen, der nicht hier geboren wurde. Aber da ich ja weiß, dass wir unterschiedliche Gehirne haben und Robert sich nicht vorstellen kann, wie abwegig ein solcher Gedanke für jemanden von hier wäre, tue ich so, als würde ich mir diese Möglichkeit tatsächlich ausmalen. »Sie würde wahrscheinlich sagen, dass du dich, solange du dich auf sowjetischem Boden befindest, nach der sowjetischen Lebensart richten musst. Der rechten Art, weißt du«, setze ich hinzu und werfe Robert einen Seitenblick zu, um seine Reaktion zu |390| beobachten. »Der rechtshändigen Art«, sage ich, und wir müssen beide kichern.
Ich blicke aus dem Fenster auf die von Schneematsch gesäumten Fassaden, auf das gelbe Gebäude mit den weißen Säulen, das Fahrkartenbüro der Bahn, und denke an das, was hier vor ein paar Tagen geschehen ist. Ich weiß, dass Robert diese Geschichte gefallen wird, eine typisch russische Szene, die ich ihm auf Russisch schildere. Gegen ein Uhr nachmittags, nachdem ich eine Stunde lang in der Schlange gestanden hatte, um für Tante Mila eine Rückfahrkarte nach Minsk zu lösen, schlossen zwei Fahrkartenverkäuferinnen gleichzeitig ihre Schalter mit handgeschriebenen Pappschildern, auf
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