Goodbye Leningrad
ob er insgeheim womöglich tatsächlich in mich verliebt ist – mit jener Art von Liebe, die so anstrengend und irrational ist, wie sie mich ein, zwei Jahre lang, nachdem ich Boris auf der Krim kennengelernt hatte, nicht losließ. Ist sie der Grund dafür, dass Robert so viel auf sich genommen hat, um bereits zum dritten Mal in einem Jahr herzukommen? Dabei hat Robert nichts Irrationales an sich; er ist weder überbordend emotional noch impulsiv. Ich habe ihn weder fluchen hören noch je erröten sehen. Auf Partys, wie sie bei uns üblich sind, bei denen eine Flasche Wodka für zwei bloß der Anfang ist, ist er nicht einmal betrunken gewesen oder hat auch nur glasige Augen gehabt. Vielleicht ist er ja auf irgendeine seltsame Art wie ich und behält seine Gefühle für sich und verbirgt sie vor den Blicken der anderen, als wären sie kostbare ungarische Salami oder schwer zu beschaffende finnische Stiefel. Vielleicht sind wir einander dermaßen ähnlich, dass er die Slawistik-Professorin Karen im Nu vergisst und wir den Rest unserer Tage damit verbringen, Gogols ›Tote Seelen‹ zu lesen und die korrekte Aussprache palataler Konsonanten zu üben, die einem Nicht-Muttersprachler versagt bleibt.
»Er ist doch bloß ein Gaul. Er holt dich hier raus«, hat Nina neulich gesagt. »Was soll’s, wenn es keine echte Heirat ist? Sei dankbar für das, was du hast, und genieße den Ritt.«
Mir macht es nichts aus, dass Robert nach wie vor an Karen denkt. Ich bin froh, ihn zu heiraten, denn mir gefällt seine |384| Fremdartigkeit. Mir gefällt, dass er das Verbotene und Unbekannte verkörpert, dass seine Nationalität den Leuten den Atem verschlägt. Mir gefällt, dass Robert mich aus dem Kollektiv herausgeholt hat und ich von nun an das genaue Gegenteil dessen sein kann, was wir hier alle sind, nämlich zynisch und duckmäuserisch. Das Gegenteil dessen, was aus unseren Seelen geworden ist, die gespalten sind und schizophren. Ich werde diese beiden Teile meines Selbst heilen und wieder zusammenfügen – mein wahres, verborgenes Ich und jenes, das die anderen zu sehen bekommen. Und Natalija Borisowna wird es nie wieder wagen, mir ihre aalglatten Ratschläge zu erteilen, mich nie wieder tadeln können, weil ich meine
r
’s auf höchst unbritische Weise rolle. Mir gefällt es, dass ich nicht länger eine eifrige Pionierin bin, die um Aufmerksamkeit buhlt, wie damals in der dritten Klasse bei Wera Pawlowna, ein Goldklumpen neben dem Diamanten Soja Tschurkina.
Vielleicht könnte ich Robert sogar lieben. Als wir zum ersten Mal miteinander im Bett waren, verhielten wir uns beide eher zögerlich, als befürchteten wir, etwas Fremdes, Abstoßendes am anderen zu entdecken. Wirklich ungewohnt am amerikanischen Sex war für mich jedoch, wie sich herausstellte, lediglich das Angebot an Verhütungsmitteln.
»Kennst du die Geschichte von dem sowjetischen Paar, das über Irland nach Kuba reist?«, fragt Robert, während ich die Kondomverpackung in meine Handtasche stopfe, damit Galja sie nicht findet. »Am Dubliner Flughafen hatten sie vier Stunden Aufenthalt. Sie hatten das englische Wort ›protection‹ für Kondom gelernt und baten den Besitzer einer Drogerie um ›protection‹. Der Ladenbesitzer rief die Polizei, weil er dachte, sie würden um politisches Asyl bitten, und schließlich landeten sie auf der Polizeiwache.« Robert schüttelt den Kopf, amüsiert über das Pech der beiden unbedarften Sowjetbürger. |385| »Aber verstehst du die Ironie?«, fragt er kichernd. »Irland ist ein katholisches Land, deshalb gibt es dort keine Kondome zu kaufen. Sie geben einem politisches Asyl, aber keine Verhütungsmittel.« Ich begreife die Ironie, frage mich aber auch, was wohl aus dem sowjetischen Paar geworden ist, nachdem es um Verhütungsmittel gebeten hatte, ganz zu schweigen von dem politischen Asyl. Ich frage mich, was wohl aus Robert und mir werden wird.
Aus Galjas Erdgeschosswohnung starre ich auf kahle Birken von der Farbe des schmutzigen Schnees auf der Erde, auf einen Jungen mit offenem Mantel in
walenki
-Stiefeln, der einen leeren Schlitten über einen Pfad zieht. Robert, der mit der Krawatte kämpft, die er sich ebenfalls von einem Freund geliehen hat, folgt meinem Blick, doch da ist der Junge bereits hinter einer Ecke verschwunden. Was hat ein Junge, der eigentlich in der Schule sein sollte, hier mit einem Schlitten zu suchen, den er über die letzten spärlichen Flecken Schnee zieht? Welche Lüge hat er seiner Mutter
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