Goodbye Leningrad
Höhe. Ihre Gefühle werden von meiner Mutter und meiner Tante Musa geteilt, die eine Woche zuvor aus Stankowo gekommen ist. Alle drei sitzen in unserer Küche und betonen, wie ungehörig es doch sei, wenn zwei Menschen in einer gemeinsamen Wohnung lebten, noch bevor der Staat sie offiziell für verheiratet erklärte. »Du hättest bis übermorgen hierbleiben |381| sollen«, sagt Tante Musa mit der weichen, verständigen Stimme einer Pädagogin, in dem Versuch, mir eine verspätete Lektion zu erteilen. Woraufhin meine Mutter die Arme in die Luft wirft, um zu bedeuten, dass es vergebliche Liebesmüh sei, gegen die dekadenten Moralvorstellungen des verkommenen Westens anzukämpfen.
Ich denke an Onkel Wowa, der an der Hochzeit nicht teilnehmen kann. Über die Tatsache, dass ich mit Robert zusammenwohne, hätte er jedoch genauso wenig die Stirn gerunzelt wie über Boris von der Krim oder mein Leben am Strand.
Es gibt allerdings eine wesentlich dringlichere Botschaft, die Tante Musa mir begreiflich zu machen versucht, ihr letzter Anlauf, mich zur Vernunft zu bringen. »Vielleicht findest du ja noch einen anderen, den du heiraten könntest«, fährt sie wehmütig fort und sieht mich eindringlich an. »Einen guten russischen Burschen.« Sie betont das Wort »russisch«, was mich an meinen Cousin Fedja, ihren zweitältesten Sohn, denken lässt, der gerade von einem dreitägigen Saufgelage zurückgekehrt ist. »Wir sind hier geboren«, säuselt Tante Musa, »was wissen wir schon über ihr westliches Leben?« Sie tauscht Blicke mit meiner Mutter, die mit den Schultern zuckt, um zu bestätigen, dass wir nicht das Geringste wissen. Mit Ausnahme meiner Schwester wünschen sich alle in meiner Familie, der Westen wäre bereits, wie unsere Zeitungen verheißen, zusammengebrochen, damit ihnen diese skandalöse Heirat erspart bliebe.
Indessen hält Marina, die inzwischen meine Heirat mit einem Ausländer ganz offen befürwortet, den Westen für vollkommen gesund, vielmehr sei unser Land auf einen chirurgischen Eingriff angewiesen. Sie schnaubt energisch, wenn meine Mutter die ›Prawda‹ auf dem Küchentisch ausbreitet, und lässt meine provinzielle Tante erschauern, wenn sie von den jüngsten Wahlen berichtet, bei denen Marina und ich Breschnews |382| Namen, den einzigen auf dem Stimmzettel, durchgestrichen und darüber mit einem blauen Kugelschreiber »Sacharow« geschrieben hatten. Wenn Musa sich bei Robert nach dem Westen erkundigt und dabei Begriffe wie »Inflation« und »Apartheid« verwendet, verdreht Marina jedes Mal die Augen und lacht schalkhaft.
»Apartheid?« Robert blinzelt verwirrt. Für meine Tante spielt es keine Rolle, dass die Apartheid von Amerika aus gesehen auf der anderen Seite der Welt stattfindet. Westen ist Westen, egal auf welchem Kontinent. Sämtliche kapitalistischen Laster werden miteinander verquickt und wie nicht zueinander passende Wollfäden zu einem haarigen Knäuel aus internationalem Übel aufgewickelt.
In unserer gemeinsamen Wohnung auf Zeit tun Robert und ich so, als würden wir demnächst heiraten. Wir wissen beide, dass es ein Spiel ist, allerdings nicht ganz, denn zu der Zeremonie, die in drei Stunden im Hochzeitspalast stattfinden wird, haben wir sechs echte Gäste eingeladen. Wir wissen beide, dass es keine richtige Hochzeit ist, aber doch immerhin eine Hochzeit, für die er sich von einem Freund einen Anzug geliehen hat. Er selbst besitze keine Anzüge, sagt er stolz und steigt in eine braune Hose, die ein paar Zentimeter zu kurz ist.
Ich stehe an Galjas Tisch und bügele mein Hochzeitskleid aus glitzerndem lilafarbenem Polyester, der bei der leisesten Berührung kraust. Ich habe den Stoff im
Gostini Dwor
am Newski-Prospekt gekauft, und Marina hat daraus ein Kleid genäht, das sie in einem Modemagazin ohne Titelseite gesehen hat, das jemand im Theater liegen gelassen hatte. Wir wussten nicht, ob das Heft aus diesem Monat oder überhaupt aus diesem Jahr stammte, doch das Mädchen auf dem Foto sah erfahren und weltgewandt aus, genauso, wie ich gern aussehen wollte.
|383| Ich lasse das Bügeleisen über den statisch aufgeladenen Stoff gleiten und verspüre Schuldgefühle, dass ich nicht so sehr in Robert verliebt bin, wie die Frau im Hochzeitspalast vermutet hat. Ich wünschte, meine Knie wären weich geworden, als ich ihn auf dem Flughafen zu unserer Seite der Welt herüberkommen sah; ich wünschte, ich wäre dahingeschmolzen, als er mich zur Begrüßung küsste. Ich frage mich,
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