Goodbye Leningrad
einzelnen Löffel voll, vor allem die üppige, klebrige Ausbeute entlang der Naht, wo die Wandung des Kessels auf dessen Boden trifft. Wenn ich mit dem Auskratzen fertig bin und aus Erfahrung weiß, dass mit dem Löffel kein weiterer Tropfen zu ergattern ist, beginne ich mit dem Auslecken. Die Seitenwände sind leicht. Aber bis zum Boden zu gelangen, ist ein schwieriges Unterfangen, und ich strecke die Zunge hinaus, so weit ich nur |66| kann, bis sie die zuckrigen Grate erreicht, die der Löffel auf dem Boden zurückgelassen hat. Inzwischen steckt mein ganzer Kopf im Kessel, mein Haar klebt an der Wandung, der Rand hinterläßt klebrige Flecken auf meinem Hals und meinen Ohren.
Ende August ereignet sich plötzlich etwas: Der Sommer rollt sich ein wie ein verdorrtes Blatt, faltet sich zusammen, zieht sich zurück. Die leichte Brise vom Finnischen Meerbusen wandelt sich in einen eisigen Wind, und die Sonne wird kühl und distanziert, als hätte sie ihr Interesse an unserer Datscha und unserem Garten verloren.
Für meinen Vater ist dies die letzte Gelegenheit, zum Angeln zu gehen, und er plant einen richtigen Angelausflug – keine Kinder, niemand sonst, nur er allein. Er macht sich in der Nacht auf den Weg, schläft im Schuppen des Bootsbesitzers und rudert um drei Uhr morgens los, in absoluter Finsternis, noch bevor die Sonne ans Erwachen denkt. Meine Großmutter, meine Mutter und ich verabschieden ihn am Gartentor, winken ihm stürmisch hinterher und sehen ihn mit drei Angelruten, die im Einklang mit seinen Schritten auf seiner Schulter auf und nieder wippen, über das Feld fortgehen.
Am Morgen kehrt er nicht zurück. Gegen zwölf Uhr mittags hört meine Mutter auf, Stachelbeeren vom Busch zu pflücken, stellt den Korb auf dem Boden der Veranda ab und vergleicht ihre Armbanduhr mit dem Wecker auf dem Tisch. Mit Großmutter geht sie immer wieder die verschiedenen Zeitabschnitte durch: wie lange es wohl gedauert haben mag, mit dem Boot auf den Finnischen Meerbusen hinauszurudern, wie viele Stunden, um es wieder zurückzubringen, in den Schuppen des Bootsbesitzers zu schaffen und dann die vier Kilometer bis nach Hause zu gehen?
»Vielleicht unterhält er sich ja mit dem Bootsbesitzer«, gibt |67| Großmutter zu bedenken. »Vielleicht ist er eingeschlafen. Oder er hat beschlossen, die Fische gleich vor Ort auszunehmen. Bei den Männern weiß man nie.«
Ihre Stimme ist süß und sämig wie Honig, aber meine Mutter lässt sich nicht so leicht etwas vormachen. Sie steht auf, breitet auf dem Tisch in der Veranda eine Zeitung aus und schüttet die Stachelbeeren darauf, um sie zu verlesen. Doch stattdessen hockt sie vor dem Beerenhaufen und zupft an der Nagelhaut ihrer Finger.
Eine Weile schweigen sie, und wir beobachten Deduschka beim Stutzen des alten Birnbaums, dessen Zweige er zurückschneidet, um dann die frischen Schnittstellen mit etwas Weißem aus einem Kanister zu bestreichen.
Dann ist es zwei Uhr nachmittags, dann drei, dann vier.
»Ich hätte ihn nicht gehen lassen sollen. Ich habe es gespürt, dass etwas passieren würde, da habe ich’s gespürt«, sagt meine Mutter und fährt mit der Faust über ihren Busen.
»Männer sind eben Männer«, sagt Großmutter. »Sie machen, was sie wollen.« Sie schlurft durch die Veranda, bleibt am Fenster stehen, um Deduschka dabei zuzusehen, wie er die letzten Dillbüschel herausreißt. Sie sind ganz verwelkt und kraftlos und eignen sich mit ihren gelben Blütenschirmen nur noch zum Einlegen.
»Ich hätte nein sagen sollen«, sagt meine Mutter. »Einfach nein, du gehst nicht. Und jetzt haben wir den Salat.« Sie öffnet ihre Hände, als würde sie uns Neuigkeiten verkünden, die uns bereits bekannt sind. Sie beklagt ihre eigene Nachgiebigkeit, scheint dieses ungeduldige Warten, dieses eventuelle Eintreffen des Unaussprechlichen, als Strafe für ihre Nachsicht zu deuten. Wäre sie etwas energischer, eine Spur eigensinniger und beharrlicher gewesen, würden wir drei jetzt nicht auf der Veranda hocken und möglichst nicht auf die Uhr blicken.
|68| »Vielleicht hat es ja einen Sturm gegeben. Es ist der Finnische Meerbusen. Es ist immerhin die Ostsee«, sagt meine Mutter und legt ein weiteres Scheit auf das lodernde Feuer ihrer Sorgen.
Obwohl ich genauso rastlos warte wie die anderen, weiß ich, dass mein Vater in Sicherheit ist. Ihm kann nichts zugestoßen sein. Ihm könnte nie etwas zustoßen. Er ist ein Angler, er hat drei Angelruten und weiß, wie man einen
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