Goodbye Leningrad
die Vorahnung der Magie, die Erwartung der Illusion.«
Ich weiß nicht, warum mein Vater über das Theater spricht, als wäre er ein Schauspieler oder ein begeisterter Theatergänger, stelle ihm jedoch keine Fragen. Ich kann sein Gesicht nicht |61| sehen, da er den Blick abgewandt hat, in Richtung Horizont, ins Publikum. »Lass die Magie nicht entwischen«, sagt er, »sonst versinkst du im Treibsand des Gewöhnlichen.«
»Woran erkenne ich die Magie?«, frage ich, doch habe ich keine Stimme und öffne nur immer wieder lautlos den Mund, wie der Barsch, den ich vergangenen Sommer gefangen habe und der sich auf dem Boden unseres Bootes wand.
Auf irgendeine Art und Weise, wie man es nur in Träumen erlebt, hört er die Frage. »Du wirst es wissen«, sagt er und wirft mir unter dem Schirm seiner Kappe einen Blick zu. »Du wirst es wissen, wenn alle Geräusche plötzlich verstummen.«
Ich wache auf, als das Licht sich bereits in die Luft ergossen und den Himmel rosig gefärbt hat. Ich bin starr vor Schreck, dass ich vor lauter Schwelgen in merkwürdigen Träumen über Theater und Angeln womöglich verschlafen und den Angelausflug verpasst habe.
Es ist kurz vor sieben. Der Kessel beginnt auf einer Kochplatte zu pfeifen, und meine Mutter, die sich einen Lappen um ihre Hand gewickelt hat, nimmt ihn und gießt kochendes Wasser in eine Teekanne. Auf der Suche nach meinem Vater laufe ich auf die Veranda.
Er sitzt an seinem Platz am Kopfende des Tisches und liest mit der Brille auf der Nase die ›Prawda‹, die er aus der Stadt mitgebracht hat, als sei dies ein Tag wie jeder andere, an dem nichts Besonderes geplant ist.
»Wann gehen wir angeln?«, frage ich. Er lässt die Zeitung sinken und sieht mich über den Rand seiner Brille an, was seinem Gesicht einen leicht spöttischen Ausdruck verleiht.
Meine Mutter kommt mit der Teekanne in der einen und dem Wasserkessel in der anderen Hand auf die Veranda. »Wer geht angeln?«, fragt sie. Ihr Tonfall ist mir nur zu vertraut, ihre |62| Stimme klingt wie die einer Professorin, die einen Studenten zurechtweist.
Ich sehe meinen Vater an. »Du hast doch gestern gesagt, wir könnten gehen.« Ich versuche, nicht zu meiner Mutter zu blicken, die kochendes Wasser in seine Tasse gießt. »Du hast gesagt, wir würden zusammen angeln gehen.« Ich sehe, wie sie sich aufrichtet und zum Sprechen rüstet. »Du hast es aber versprochen«, sage ich, wobei ich das gestern auf der Veranda Gesagte ein paar Millimeter zu meinen Gunsten auslege.
»Du gehst nirgendwohin«, sagt meine Mutter und sieht mich dabei direkt an. »Du bleibst hier und hilfst uns beim Streichen.« Sie nimmt zwei Teelöffel Zucker aus der Zuckerdose, schüttet sie in die Tasse meines Vaters und rührt den Tee mehrmals um.
Das ist dermaßen ungerecht, dass ich weinen muss. Ich weine und schluchze. Meine Nase läuft, und ich wische mit den Händen über mein Gesicht.
Mein Vater weiß nicht, was er tun soll. Meine Tränen machen ihn befangen und lassen ihn mit hängenden Schultern die Veranda verlassen, die Finger fest um die abgenommene Brille geschlossen. Ich sehe, wie sich seine Gestalt, deren Umriss ganz verschwommen ist, in Richtung Schuppen bewegt, wo Onkel Wolodja im Heu schläft.
Als Großmutter mein Weinen hört, eilt sie aus dem Garten herbei, wo sie gerade mit dem Schneiden von Erdbeertrieben beschäftigt war. Schnurrbärte nennt sie sie, als wären Erdbeerpflanzen aristokratische Herren aus einem Roman von Tolstoi. »
Nu
,
nu «
, flüstert sie und legt die Arme um mich, wobei sie mich an ihren Leib drückt, der so weich ist, dass der Kosename meiner Mutter, Mamotschka, auf einmal zu ihr passt. Sie murmelt ihren weisen Ausspruch: »Alles geschieht zum Besten.«
Es ist ein perfektes Beispiel für die Absurdität ihrer Philosophie, denn am Sonntag das Haus anzustreichen, ist natürlich |63| nicht besser, als mit meinem Vater zum Angeln zu gehen. Aber ich sage nichts, denn ihre Arme fühlen sich so warm und weich an wie ein Federbett.
Meine Mutter ist wieder in der Küche und stapft zwischen dem Eimer mit Trinkwasser am einen und dem Tisch am anderen Ende des Raumes hin und her. Ich hasse sie, hasse diese abblätternden Wände, hasse diesen ruinierten Sonntag. Ich hasse Deduschka, dem ich dabei zusehe, wie er gelbe Löwenzahnsonnen aus einem Frühlingszwiebelbeet rupft. Als er damit fertig ist, richtet er sich auf und starrt auf seine Handflächen, die, wie ich weiß, von der Löwenzahnmilch ganz schwarz und
Weitere Kostenlose Bücher