Goodbye Leningrad
meine Mutter, die erst vor Kurzem einen Zusammenstoß mit Klempnern hatte. Nachdem sie sich eine Woche lang tagtäglich zur Verwaltung unseres Wohnblocks aufgemacht hatte, um ein leckes Rohr zu beanstanden, setzte meine Mutter sich schließlich durch, und man schickte uns zwei Klempner, die das Problem beheben sollten. Doch als sie schließlich bei uns eintrafen, waren sie dermaßen betrunken, dass sie, als meine Mutter die Tür öffnete, auf dem Treppenabsatz zu Boden sanken, die Köpfe gegen den Aufzugsschacht gelehnt.
Es ist der Tag vor dem 7. November, dem Jahrestag der Großen Oktoberrevolution, ein Thema, das Wera Pawlowna im Geschichtsunterricht besonders am Herzen liegt. Mit ausgestrecktem Arm – wie die Lenin-Statuen, die über die ganze Stadt verteilt sind – berichtet sie uns, wie das aus dem Ersten Weltkrieg stammende ehemalige Kriegsschiff
Aurora
, das heute an der Petrograder Seite dauerhaft vor Anker liegt, mit einem Schuss das Signal für den Sturm auf den Winterpalast gab.
|72| »Arbeiter wie Bauern«, sagt sie, »vom Zar gnadenlos ausgebeutet, kletterten über das Palasttor, stürmten die Oktobertreppe hinauf und nahmen die Provisorische Regierung fest.« Die Passage über die Provisorische Regierung bleibt unklar, da sie nie erläutert, wie es dazu kam, dass diese Regierung an die Stelle des Zaren trat, und warum auch sie gestürzt werden musste, da doch der bereits entthronte Zar das Land in den jammervollen Abgrund gerissen hatte, was ein revolutionäres Eingreifen verlangte.
Während sie mit bebender Stimme die Verhaftung schildert, versuche ich, mir eine Horde von Arbeitern und Bauern im Winterpalast, der Heimstatt der Eremitage, vorzustellen, die mit schweren Stiefeln über die Oktobertreppe mit ihren Marmorintarsien trampelt, vorbei an den italienischen Gemälden, und mit ihren Hammern und Sicheln am Thron Peters des Großen vorüberjagt. Wera Pawlownas Inbrunst zum Trotz kann ich mich nicht des Gedankens erwehren, dass heutzutage so etwas undenkbar wäre, wo man doch schon am Eingang der Eremitage Filzpantoffeln anziehen, an den Knöcheln befestigen und unter den wachsamen Blicken unzähliger Babuschki, die in jedem Raum in einer Ecke sitzen, langsam umhergleiten und tunlichst darauf achten muss, dass man dem königlichen Porzellan oder den Gemälden von unschätzbarem Wert nur ja nicht zu nahe kommt.
»Morgen, am siebten November«, sagt sie, »wird überall in der Sowjetunion, von unserer ruhmreichen Hauptstadt bis zum Permafrost der sibirischen Taiga, der Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution begangen.«
»Warum heißt sie Oktoberrevolution, wenn sie im November gefeiert wird?«, fragt Dimka, der Rowdy aus der letzten Reihe.
Wera Pawlowna gerät mitten in ihrer Geschichte ins Stocken |73| und wirft ihm einen ungläubigen Blick zu. Der Wechsel vom Julianischen zum Gregorianischen Kalender ist Stoff der ersten Klasse, aber schon damals hat Dimka offenbar nicht zugehört.
»Schäm dich«, sagt sie und streckt nach Lenin’scher Manier den Finger nach ihm aus. »Schäm dich für deine Unwissenheit.«
Sie hält inne, damit sich Dimkas Scham und Hoffnungslosigkeit in jedem von uns gebührend setzen kann. Nach einer Minute des Schweigens wendet sie sich, da ihr Erzählfluss endgültig unterbrochen ist, der jüngeren Geschichte zu.
»Wenn wir nach dem Feiertag übermorgen wieder in die Schule gehen, werden wir unseren eigenen feierlichen Anlass begehen. Euch wird eine große Ehre zuteil – ihr werdet alle zu Pionieren ernannt.«
Jahr für Jahr leisten drei in makellosen Reihen aufgestellte Abteilungen aus Drittklässlern in der Turnhalle der Schule den Schwur der Pioniere, wobei ihnen von Siebtklässlern rote Tücher umgebunden werden, die wiederum mit vierzehn Jahren von den Pionieren in den Komsomol, die kommunistische Jugendorganisation, überwechseln. Es ist genauso ein Schulritual wie der alljährliche Besuch der Zahnklinik, an einem Tag Mitte März, den jeder hasst.
»Ihr alle werdet in zwei Tagen den Eid leisten. Dies ist der erste Schritt auf dem großen Weg, der euch zu Kommunisten werden lässt«, fährt Wera Pawlowna mit einem Seitenblick auf Dimka fort. Mit einem Kopfschütteln gibt sie uns zu verstehen, dass ihm eine solche Ehre eigentlich nicht gebührt.
Die Verhaltensregeln der Pioniere, die an der Wand unseres Klassenzimmers hängen, verlangen von sämtlichen Anwärtern sowohl tadelloses Verhalten als auch gute Noten, weshalb Dimka
Weitere Kostenlose Bücher