Goodbye Leningrad
Köder perfekt anbringt. Er weiß, wie man mit den Rudern umgeht, so dass das Boot lautlos dahingleitet und bei der leisesten Handbewegung die Richtung ändert. Im Falle eines Sturms wird er einfach kräftig und schnell rudern, stärker als die Wellen. Mein Vater ist unbesiegbar. Ich weiß, er wartet irgendwo und hat genug davon, dass man ihm sagt, was er zu tun hat, hat keine Lust, sich von Deduschka herumkommandieren zu lassen, und stellt sie alle durch seine Abwesenheit auf die Probe.
Gegen acht, als die Abenddämmerung die Umrisse der Bäume aufzulösen beginnt, wankt er über das Feld, schleppt sich die Stufen zur Veranda hinauf und bricht auf dem Sofa zusammen. Ich kauere mich neben ihn, doch er weist mich zurück. Meine Mutter bringt ihm Tee, den er ebenfalls zurückweist.
Ich starre meine Mutter und Großmutter triumphierend an und gebe ihnen durch meine Blicke zu erkennen, dass mein auf dem Sofa liegender Vater ein untrüglicher Beweis dafür ist, dass ich die ganze Zeit recht hatte, dass sie ihn durch ihre Sorgen nur schwach und verwundbar haben erscheinen lassen, als könnte er je einem Sturm erliegen. Als könnte er überhaupt irgendetwas erliegen.
»Und, was ist passiert?«, fragt meine Mutter, wobei in ihrer Stimme noch immer eine Spur ihrer Angst mitschwingt, aber auch das dringende Bedürfnis zu erfahren, was der Grund dafür sein mag, dass sie und Großmutter immerzu auf die Uhr |69| blicken und sich ausmalen mussten, was einen Mann wohl dazu bewogen haben mochte, Stunden zu spät nach Hause zu kommen.
Es habe einen Sturm gegeben, sagt er, einen Sturm, den er überlebt habe, weil er das Boot in eine sumpfige Bucht habe steuern können – verdammtes Glück –, wo er das Boot an einem Baum befestigt und sich zusammengekauert habe, bis die Gefahr vorüber gewesen sei.
Meiner Mutter stockt der Atem, doch bin ich die Einzige, die es sieht, denn sie wendet sich rasch ab, und die Hände, die sie eben noch zu ihrer Brust erhoben hat, streichen inzwischen an den Oberschenkeln über ihr Kleid.
Ich sehe, wie mein Vater die Augen schließt und einschläft. Ich sehe, wie meine Mutter eine Decke auf die Veranda trägt, über ihn breitet und an seinen Schultern und Knien feststeckt. Er dreht sich auf die Seite und legt die Ellbogen auf die Ohren, als wolle er sich kein Gezeter über seine Abwesenheit mehr anhören.
Ich wusste, dass mein Vater stärker war als der Sturm, stärker als alle vermuteten. Ich wusste, er würde wieder auf die Beine kommen.
|70| 5
LENIN UND EICHHÖRNCHEN
Meine Lehrerin in der dritten Klasse, Wera Pawlowna, ist groß und spindeldürr. Eine braune Strickjacke hängt von ihren Schultern, die so steif sind wie ein Kleiderbügel. Sie unterrichtet Mathematik, sowjetische Geschichte und Russisch. Im Unterricht übertragen wir Aufgaben aus der Fibel in dünne, linierte Hefte, während sie durch den Klassenraum geht, über unsere Köpfe späht und die gleichmäßigen Striche unserer Handschrift lobt.
Meistens gilt ihr Lob Soja Tschurkina, die zu meiner Linken zwei Reihen vor mir sitzt. Soja ist blond und vollkommen, ihr langes Haar zu zwei ordentlichen Zöpfen mit Schleifen an den Enden geflochten, ihre über dem hübschen braunen Kleid mit dem weißen Kragen zugeknöpfte Schürze stets frisch gestärkt. »Unser Diamant«, nennt Wera Pawlowna sie, woraufhin Soja ein Lächeln zu unterdrücken versucht und errötet.
Mich nennt sie nie Diamant, obwohl ich die Aufgaben genauso schnell erledige wie Soja. Der beste Kosename, den ich je erhalte, ist »unser Goldklumpen«. Sie lässt ihn mir zuteil werden, wenn ich sämtliche Partizipien ohne einen einzigen Fehler dekliniere. Ich kann Soja mit ihren mustergültigen Zöpfen und ihrem ewigen Diamantenstatus nicht ausstehen. Obwohl niemand von uns eine Ahnung hat, wie ein Diamant oder ein |71| Goldklumpen aussieht, sind wir uns alle der Überlegenheit des Diamanten und demnach meines zweitrangigen Status bewusst.
Wenn die Klingel ertönt, wischt Soja die Tafel und sorgt dafür, dass alle in den Flur gehen. Sie ist die Klassenordnerin, die Einzige, die während der Pause im Raum bleiben darf, diejenige, die darüber wacht, dass Dimka, der Klassenrowdy, keinen Streit anzettelt.
Dimka ist ein
dwojeschnik
, einer, der in jedem Fach eine
dwojka
, oder ›nicht bestanden‹, bekommt. Das Gegenteil einer
dwojka
ist eine
pjatorka
, eine Fünf, die Note, die Soja und ich erhalten. »Wahrscheinlich ist dieser Dimka der Sohn eines Klempners«, sagt
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