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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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eigentlich nicht infrage kommt; tatsächlich jedoch erhält jeder Schüler aus jeder Klasse ein rotes Halstuch, und Wera |74| Pawlowna kann nichts dagegen ausrichten, dass auch Dimka aufgenommen wird. Wir wissen natürlich alle, dass sie es gar nicht erst versuchen würde. Sie begreift die Notwendigkeit, in der Praxis von dem abzuweichen, was auf dem Papier steht; dass Regeln dazu da sind, aufgesagt und angestrebt, nicht jedoch befolgt zu werden. Wir alle wissen, dass es nicht gut aussehen würde, wenn während der Zeremonie manche ohne Halstuch dastehen würden, es würde nur alle denkbaren Fragen hinsichtlich ihres Verhaltens und Treuegelöbnisses aufwerfen.
    »Seht euch unseren heldenhaften Pionier aus der Vergangenheit an«, sagt Wera Pawlowna und zeigt auf das Porträt von Pawlik Morosow, das neben Puschkin an der Wand hängt. Seine Geschichte steht in unseren Lehrbüchern, doch Wera Pawlowna wiederholt sie noch einmal. »Als Sohn wohlhabender Bauern stellte Pawlik eines Tages fest, dass sein Vater Säcke mit Weizen in seinem Keller versteckte   – während die Menschen verhungerten. In der Nacht lief der tapfere Junge über die Felder zum örtlichen Sowjet und berichtete dort von dem Getreide. Am nächsten Morgen kamen die Soldaten zu ihm nach Hause und konfiszierten den Weizen. Das örtliche Kommissariat verlieh Pawlik Morosow einen Orden.« Wera Pawlowna nickt, um das letzte Wort zu betonen.
    Ich sehe hoch zu dem feierlich wirkenden Pawlik, der mit rotem Pionierhalstuch und einem Glorienschein selbstgerechter Überlegenheit, so vollkommen wie der von Soja Tschurkina, auf uns herabblickt.
    »Was geschah mit dem Vater?«, fragt Dimka aus der letzten Reihe. Wera Pawlowna hält inne und sieht ihn mit einem verzweifelten Lächeln an. Selbst wenn man nicht weiß, was mit Pawliks Vater geschah, weiß doch jeder, was mit ihm geschehen sein
muss
, nachdem er Weizen vor verhungernden Menschen versteckt hat.
    |75| »Wegen dieses schweren Vergehens und weil er sich über Stalins Anordnung, die gesamte Ernte dem Volk zu übergeben, hinweggesetzt hat, wurde Bürger Morosow der Ältere verhaftet und verbüßte zehn Jahre im Lager«, verkündet Wera Pawlowna.
    Ich bin mir nicht sicher, ob es heldenhaft ist, seinen Vater zu verraten, so dass er nach Sibirien geschickt wird, selbst wenn irgendjemand dadurch vor dem Hungertod gerettet wurde. Aber wie die anderen sage auch ich nichts, um Wera Pawlowna bei ihrer Huldigung von Pawlik Morosows Umsicht und Wagemut nicht zu widersprechen. Wir alle wissen, manche Dinge sind derart offenkundig, dass man nicht darüber diskutiert. Man diskutiert nicht über das, was in den Geschichtsbüchern steht. Man tut so, als würde man Pawlik Morosow für einen wahren Helden halten, der einen Orden verdient, genauso wie wir im Kindergarten so taten, als würden wir das Brot mit der ranzigen Butter kauen.
    Aber Dimka kennt aus Unwissenheit oder Dummheit die ungeschriebenen Gesetze nicht. Im Gegensatz zu uns denkt er nicht nach, bevor er etwas sagt. Er probt nicht in Gedanken, um sicherzugehen, dass das, was aus seinem Mund kommt, den Statuten der Pioniere entspricht. Daher stellt er von Zeit zu Zeit eine interessante Frage.
     
    Am Vorabend der Aufnahmezeremonie zu den Pionieren wasche ich zu Hause meinen weißen Uniformkragen, und meine Mutter bügelt ihn und heftet ihn an. Am nächsten Morgen frisiert sie mein Haar zu Zöpfen mit zwei weißen Nylonschleifen und stellt mich vor den dreiteiligen Ankleidespiegel. »Was für eine hübsche Pionierin«, lächelt sie. Mein Vater sucht im Schrank nach seinem Jackett. Er hatte es über eine Stuhllehne gehängt, ein guter Platz für ein Jackett, doch meine Mutter hat |76| es weggeräumt, und jetzt würde er zu spät zur Arbeit kommen. Er zerrt an einem Kleiderbügel und reißt ein Wirrwarr aus Strickjacken zu Boden, aus dem er sein Jackett hervorzieht. »Zeig mal, wie du grüßt«, sagt er, während zu seinen Füßen die traurigen Überreste des Ordnungsstrebens meiner Mutter liegen.
    Ich strecke meine Rechte aus und führe den Daumen an die Stirn, wie der Pionierleiter unserer Schule es uns gezeigt hat.
    »
Molodez «
, sagt mein Vater. »Ausgezeichnet.« Er steht vor meiner Mutter, um sich seine Krawatte binden zu lassen.
    »Wir werden alle aufgenommen«, sage ich, »selbst Dimka, der
dwojeschnik

    »Ich weiß nicht«, sagt meine Mutter kopfschüttelnd. »Was soll das für eine Belohnung für einen
dwojeschnik
sein?«, fragt sie, und ich weiß, dass

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