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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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uns, mit scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten, während Onkel Wolodja über sein immer dünner werdendes Haar streicht und eine Geschichte über einen Verkehrsposten der Miliz zum Besten gibt und mein Vater am Kopfende des Tisches, ganz mein, seine Kohlsuppe schlürft.
    Wenn mein Vater in der Stadt arbeitet, nimmt Deduschka seinen Platz am Kopfende des Tisches ein. Im Moment ist Deduschka draußen. Er gibt nur ungern seinen Kommandoposten am Tisch auf, weshalb ihm, sobald das Rattern von Onkel Wolodjas Auto zum Haus herüberdringt, ganz plötzlich einfällt, dass es höchste Zeit ist, die Bäume zu beschneiden, das Unkraut zu jäten oder die Beete zu düngen. Ich spähe durchs Fenster und sehe, wie er neben dem Johannisbeerstrauch steht, dessen Zweige begutachtet und auf die Blätter weißes Pulver aus einer kleinen Tüte streut, wobei er so tut, als hätte er nicht bemerkt, wie sich das Auto über das Feld nähert.
    »Möchtest du morgen angeln gehen?« Mein Vater legt den Löffel aus der Hand und blickt zu Onkel Wolodja.
    »Ich will angeln gehen!«, rufe ich und springe von der Bank auf.
    »Setz dich«, sagt meine Mutter. »Du hast dein Kompott nicht aufgegessen.«
    Ich will kein Kompott mehr. Ich will angeln gehen.
    |59| »Was für ein Angler bist du?«, fragt mein Vater. »
Ot gorschka dwa wjorschka.
« Kannst gerade über dein Töpfchen gucken.
    »Ich werde der beste Angler sein«, verspreche ich und presse in Habachtstellung die Handflächen seitlich an mein Sommerkleid. »Einen so großen Fisch werde ich fangen.« Ich öffne meine Arme, so weit ich kann, und drücke die Schulterblätter gegeneinander, um sie noch weiter auszubreiten.
    »Das Haus muss gestrichen werden«, sagt meine Mutter. »Letzten Sonntag hat es geregnet.«
    Onkel Wolodja, der dieselbe Unterhaltung vor einer Woche schon einmal gehört hat, sucht in seinen Taschen nach Zigaretten und geht hinaus unter das Vordach.
    »Nein«, sagt mein Vater. »Einen so großen Fisch wirst du fangen.« Er spreizt seinen Daumen und Zeigefinger zwei Zentimeter auseinander.
    Deduschka tritt unter dem Vordach hinter Onkel Wolodja und wedelt mit der Hand den Rauch fort.
    »Haben wir genügend Farbe?«, fragt meine Mutter und richtet ihre Frage an Deduschka, der sich inzwischen in Hörweite befindet.
    »Los, komm, ich brauche Hilfe am Herd«, sagt Großmutter und zieht Deduschka am Ärmel in Richtung Küche, fort von der Anstreichdebatte, die meinem Vater so gar nicht behagt.
    Deduschka befreit seinen Ellbogen aus ihrem Griff. »Wir haben fünf Liter im Schuppen«, sagt er und richtet sich auf. »Das müsste reichen.«
    »Ich will angeln gehen«, rufe ich meinem Vater jammernd hinterher, als er aufsteht, die Veranda verlässt und sich zu Onkel Wolodja unter das Vordach gesellt. »Bitte, bitte, bitte.« Ich weiß, er ist gegangen, weil er sich nicht gern etwas von Deduschka sagen lässt, der meint, uns alle herumkommandieren zu können.
    |60| Meine Mutter und Deduschka sind jetzt allein auf der Veranda. Außer ihnen denkt keiner daran, das Haus zu streichen, da doch fast schon Sonntag ist und mein Vater im Schuppen lautstark klappernd nach den Angelruten sucht.
     
    In der Nacht träume ich vom Angeln. In der Hand halte ich ein schweres, feuchtes Ruder, das lautlos in das dunkle Wasser unterhalb des Bootes schneidet. Ich kann das Gesicht meines Vaters unter dem Schirm seiner Mütze nicht erkennen: Er hält den Kopf über seine hohlen Hände geneigt, um sich eine Papirossa anzuzünden. Auf dem Boden des Bootes winden sich in einer trüben Wasserlache zwei blutrote Würmer, die aus einer mit Erde gefüllten Konservendose entkommen sind. Wir haben sie frühmorgens um fünf Uhr aus dem Komposthaufen des Bootsbesitzers ausgegraben.
    Die Wolken über dem Finnischen Meerbusen glimmen limonenfarben entlang der Linie, an der sie sich ins Wasser wälzen   – während die Sonne sich nach wie vor wie eine Reihe gedämpfter Bühnenscheinwerfer versteckt hält.
    »Schau hinter das Licht«, sagt mein Vater. »Schau genau hin, dann siehst du die Leute ins Theater strömen. Du siehst, wie Platzanweiser durch die Gänge huschen; Leute reden, es wird mit Programmen geraschelt   – du hörst ein Raunen. Wenn die Lichter ausgehen, schwillt das Raunen immer stärker an und dann, kurz bevor der Vorhang aufgeht, verstummem plötzlich alle Geräusche   – jeder hält den Atem an, jeder weiß, was gleich geschehen wird. Das ist der Moment, den ich schon immer am meisten geliebt habe:

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