Goodbye Leningrad
sie nach wie vor wegen der beiden betrunkenen Klempner verärgert ist, die noch immer nicht das undichte Rohr repariert haben. Sie fädelt die Krawatte unter den Hemdkragen meines Vaters. »Was meinst du, Ilja?«, fragt sie.
»Was macht es für einen Unterschied?«, sagt er. »Es ist nicht mehr das, was es einmal war.« Er klopft sich auf die Taschen, um zu prüfen, ob er seine beiden Packungen Belomor-Papirossy für den Tag dabei hat. »Wir haben noch an etwas geglaubt. Du hast den Krieg erlebt«, sagt er zu meiner Mutter. »Fürs Mutterland, für Stalin. Weißt du noch?«
Meine Mutter schlingt die Krawattenenden umeinander und nickt.
»Es gibt nichts mehr, an das man glauben kann. Wenn man die ›Prawda‹ aufschlägt, ist heute angeblich alles so viel besser als gestern. Und gestern war alles besser als vorgestern. Bei diesem Tempo werden bis zur nächsten Woche alle aus ihren Gemeinschaftswohnungen ausgezogen sein und ihr eigenes |77| Auto fahren, das sie mit
kolbasa
vollladen. Kennst du den Witz über die ›Prawda‹ und die ›Iswestija‹?«, fragt er niemanden im Besonderen. »In der ›Prawda‹ stehen keine Nachrichten und in der ›Iswestija‹ keine Wahrheit.«
Ich finde das lustig – keine Nachrichten in der ›Wahrheit‹ und keine Wahrheit in den ›Nachrichten‹ – und lache, doch meine Mutter sieht meinen Vater vorwurfsvoll an. Ich weiß, sie möchte mich nicht desillusionieren, bevor ich überhaupt bei den Pionieren aufgenommen werde.
»Sei eine gute Pionierin«, sagt mein Vater, nimmt seine Aktentasche und öffnet die Wohnungstür. »Und vergiss den Gruß nicht.«
»Hör auf Wera Pawlowna«, sagt meine Mutter, während wir mit dem Aufzug hinunterfahren, womit sie mir zu verstehen geben will, dass das, was mein Vater gesagt hat, nicht für die Schule zutrifft, auch wenn es grundsätzlich stimmen mag.
Am Vormittag findet kein Unterricht statt. Wir stehen in unseren Uniformen – weiße Schürzen anstatt der schwarzen für die Mädchen, weiße Hemden unter grauen Anzügen für die Jungen – in der Turnhalle stramm und geloben feierlich, so zu leben, zu lernen und zu kämpfen, wie der große Lenin es laut seinem Vermächtnis von uns erwartet.
Wir stehen in Reihen, die drei Abteilungen unseres Jahrgangs, insgesamt einhundertzwanzig Drittklässler, wobei Wera Pawlowna, aufrecht wie ein Fahnenmast, unverwandt zur Direktorin auf dem Podium blickt. Vor uns, an der gegenüberliegenden Wand der Turnhalle, stehen die drei Abteilungen Siebtklässler mit roten Halstüchern auf den ausgebreiteten Handflächen. Nachdem die Direktorin ihre Ansprache beendet hat – die Pflichten und Aufgaben der Pioniere, die wir alle auswendig kennen –, gibt unser Musiklehrer einem Fünftklässler |78| mit Horn das Zeichen, ein paar Noten zu spielen, worauf der Junge sich derart bemüht, die richtigen Töne zu treffen, dass sein Gesicht so rot wird wie sein Pioniertuch. Das ist das Signal für die Siebtklässler, zu uns herüberzukommen und die Tücher in ihren Händen um unsere Hälse zu binden. Als sich die Vierzehnjährigen unter unachtsamem Geschiebe und Gedränge auf uns zubewegen, lösen sich unsere gleichförmigen Reihen in eine ungeordnete Menge auf. Ein Schüler der siebten Klasse mit Sommersprossen und roten Ohren kommt auf mich zu, nestelt an meinem Tuch herum und bindet es in einer Weise, dass es auf der linken Seite zu weit herabhängt, aber das macht nichts, denn das Tuch gehört jetzt mir und ich kann es korrigieren oder den Knoten lösen und es noch einmal ganz neu binden.
Ich blicke aus den Augenwinkeln auf Sojas weiße Schleifen, die fein säuberlich auf ihren Schulterblättern liegen, auf Dimka, der ins Leere starrt, während er wie wir alle den angewinkelten Arm zum Gruß hebt. Dann atmet der Pionierleiter der Schule, der etwa zwanzig ist, aber wie zwölf aussieht und für den gesamten Ablauf zuständig ist, einmal tief durch und brüllt: »Seid bereit!« Jetzt heißt es, die Losung der Pioniere aufzusagen, die wir immer wieder nach dem Unterricht und während der großen Pause einstudiert haben, wobei wir so taten, als trügen wir rote Tücher um den Hals. Aber dieses Mal ist es echt. Auf unseren Kragen lodern kleine Flammen aus Polyester und verkünden jedermann in unserer Schule, dass wir nicht mehr acht Jahre alt sind. Wir holen Luft, zählen bis drei und rufen, wie man uns gelehrt hat: »Immer bereit!«
Nach der Zeremonie bietet sich Wera Pawlowna erneut die
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