Goodbye Leningrad
wenig.«
Sie blickt zur Schlange vor der Kasse, die inzwischen nur noch aus einer alten Babuschka und einer Frau mit einem Baby auf dem Arm besteht. Bei nur zwei Kunden kann man noch nicht einmal von einer Schlange reden.
»Also gut«, gibt sie nach und zückt ihre Geldbörse, so wie ich es geahnt habe. »Aber nur
tschut-tschut
.«
Am 10. März zwängen wir achtundreißig Schüler uns in eine Straßenbahn, die uns zur Zahnklinik Nr. 34 bringt. In Zweierreihen marschieren wir in ein mit Neonlicht beleuchtetes Wartezimmer, in dem es scharf nach etwas Ähnlichem riecht wie dem Äther, mit dem im Anatomielabor meiner Mutter Kaninchen getötet werden.
Wir sollen uns setzen und warten. Meine Partnerin Sweta Jurasowa und ich halten uns noch immer an den Händen und nehmen auf den hintersten Stühlen Platz, weit weg von der Tür mit dem unheilvollen Schild »Behandlungsraum«, weit weg von Dimka, dem Rowdy, der über das Linoleum gleitet und so tut, als würde er Schlittschuh fahren.
|82| Wera Pawlowna hebt den Arm und bittet um Aufmerksamkeit, doch lässt uns nicht etwa ihre Geste auf einen Schlag verstummen. Die Tür zum Behandlungsraum öffnet sich und gibt den Blick frei auf Reihen von unheilvollen, noch stummen Bohrern. Im Türrahmen steht eine stattliche Frau mit weißem Kittel und einer Haube, die so säuberlich in Falten gebügelt ist, dass sie wie ein Baiser über ihrem Kopf aufragt. Wir sind inzwischen mucksmäuschenstill, erstarrt in unserer jeweils letzten Bewegung, bevor die Tür zum Behandlungsraum aufging, als wären wir alle Schauspieler in der Schlussszene von Gogols ›Revisor‹, der berühmtesten stummen Theaterszene aller Zeiten.
»Antonowa«, verliest die Frau aus einer Mappe in ihrer Hand, worauf alle den Blick auf Anja Antonowa richten, ein Mädchen mit langem rotem Zopf auf dem Rücken, das sich nun erhebt und der Frau gehorsam in den großen Raum hinter der Tür folgt.
»In alphabetischer Reihenfolge«, sagt Sweta und lächelt verlegen, da sie als Letzte aufgerufen wird. Ich weiß, sie denkt an all die Dinge, die zwischen A und Ja, dem ersten und dem letzten Buchstaben des russischen Alphabets, passieren könnten, und wünscht sich einen plötzlichen Stromausfall herbei oder eine tödliche Krankheit aus heiterem Himmel, die ausschließlich Zahnärzte heimsucht, oder eine dringende Klassenarbeit in Geschichte, die Wera Pawlowna, wie ihr unversehens einfällt, unbedingt noch vor Ablauf des Tages schreiben lassen muss.
Mir ist nicht wie Sweta der Luxus des Hoffens und Abwartens vergönnt. Mein Name steht am Anfang des Alphabets, da G der vierte Buchstabe ist, nach A, B und W. Dabei weiß ich genau, dass mich, selbst wenn ich den Mut aufbrächte, einfach wegzulaufen, der erstbeste Milizionär auf der Straße wieder herschleppen würde, wo ich mir Wera Pawlownas Standpauke |83| würde anhören müssen. Ich bin neun Jahre alt und habe bereits gelernt, dass man diesem Wartezimmer, dieser alljährlichen zahnärztlichen Strafe, diesem Gesetz des Lebens einfach nicht entrinnen kann.
Der schlimmste Nachteil daran, am Anfang der alphabetischen Liste zu stehen, ist jedoch die Tatsache, dass noch niemand zurückgekehrt ist und berichtet hat, wie es ihm ergangen ist. Die A’s, B’s und W’s sind alle noch immer dort drinnen und schrecken auf den baumwollbezogenen Stühlen vor den Bohrern zurück.
Die Tür öffnet sich erneut, und die erste Zahnärztin, die Frau mit der Baiserhaube, starrt nun in eine andere Mappe. »Gorokhova«, bellt sie, mit einer Stimme, die plötzlich wie die von Tante Polja klingt. Ich schleiche durchs Wartezimmer, und Wera Pawlowna, die inzwischen an der Tür steht, tätschelt mir den Rücken.
Der Raum ist etwa so groß wie unsere Schulcafeteria, mit zwölf Zahnarztstühlen, die in zwei Reihen stehen. Dabei gleicht er wegen der Bohrer weniger einer Cafeteria als vielmehr einer Fabrikhalle. Einer Fabrik für vernachlässigte Zähne, die von zu vielen
Eichhörnchen
übel zugerichtet sind. Ich sehe meine drei Klassenkameradinnen, die auf den großen Stühlen so klein wirken und deren Münder in angstverzerrten Gesichtern auseinanderklaffen. Als ich der Baiserhaube folge, vorbei an den bedrohlichen Bohrern, sehe ich, wie Anja Antonowa, die als Erste aufgerufen worden ist, mit der Hand auf der Wange von dem Stuhl steigt, der nun für mich bestimmt ist.
»Setz dich«, sagt die Zahnärztin und beginnt, meine Akte zu studieren. Ich hoffe, sie studiert sie gründlich
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