Goodbye Leningrad
Gelegenheit, uns etwas über Heldentum und Wagemut zu erzählen. Sie steht vor unseren vier Tischreihen und spricht über den Großen Vaterländischen Krieg. Der Name Stalin, sagt sie, |79| sei von dem Wort
stal
, das Stahl bedeute, abgeleitet, denn er sei so hart wie Stahl gewesen. »Genau der richtige Name für ihn«, sagt sie, als würden Namen bei irgendeiner Namensvergabe-Messe passend zum Charakter verteilt.
Ich frage mich, wie Lenin zu seinem Namen kam. Laut unserem Geschichtsbuch mit dem Titel ›Für alle Zeiten lebendig‹ wählte er ihn zu Ehren des großen sibirischen Stromes Lena. Aber ich heiße ebenfalls Lena, und diese Übereinstimmung berührt mich unangenehm. Bin ich auf irgendeine seltsame Weise mit Lenin verwandt? Verpflichtet es mich, mit derselben Inbrunst wie Wera Pawlowna an das zu glauben, was wir in der dritten Klasse im Geschichtsunterricht lernen? Verpflichtet es mich, Pawlik Morosow zu bewundern, der einst die hungernden Menschen über seinen Vater stellte und heute höhnisch von der Wand auf mich herabblickt?
Unter dem Gewicht dieser historischen Last gaben meine Schultern nach.
Im März hat unsere dritte Klasse einen Termin in einer Zahnklinik. Wera Pawlowna schreibt das Datum in gleichmäßiger, nach rechts geneigter Schreibschrift an die Tafel und fordert uns auf, es in unseren Hausaufgabenheften zu notieren: Mittwoch, der 10. März.
Ich hasse den Besuch beim Zahnarzt. Ich wünschte, ich könnte das Datum, das wir alle in unser Hausaufgabenheft geschrieben haben, ausstreichen, es von der Seite und aus meinem Leben löschen. Ich wünschte, ich könnte alle künftigen Termine absagen, einen pro Schuljahr, der in jedem dritten Quartal drohend heraufzieht und jedes Mal die Vorfreude auf den Internationalen Frauentag dämpft, wenn die Jungs in meiner Klasse schüchtern kleine obligatorische Geschenke für die Mädchen hervorziehen und in der letzten Unterrichtsstunde |80| am 7. März Bleistiftanspitzer, Radiergummis und Taschenkämme verteilt werden.
Im vergangenen März stocherte die Zahnärztin mit wütender Miene in meinem Mund herum, weil sie beim besten Willen keine Löcher entdecken konnte, die zu füllen waren. Dieses Mal wird sie, fürchte ich, weniger enttäuscht sein. Man kann nicht zweimal hintereinander so viel Glück haben, sagt meine Schwester, die in Moskau die Schauspielschule besucht, und vielleicht hat sie ja recht. Ich denke an die Kilos von
Eichhörnchen
– in blaugrünes Papier eingewickelte Schokoladenbonbons, auf denen ein Eichhörnchen abgebildet ist, das eine riesige Nuss hält –, die ich im vergangenen Jahr von meiner Mutter erbettelt habe. Meine Mutter tut immer so, als wolle sie keine Bonbons kaufen, dabei weiß ich, dass sie zum Tee gern ein
Eichhörnchen
auswickelt. Deshalb spielen wir jedes Mal, wenn wir einen Lebensmittelladen betreten, dasselbe Spiel, das ich im Kindergarten gelernt habe.
»Darf ich bitte ein paar
Eichhörnchen
haben, bitte«, quengle ich, während sie sich an der Kasse anstellt, um das Brot zu bezahlen. Der Ladentisch mit Süßigkeiten befindet sich gleich neben dem mit Backwaren. Hinter einer gleichgültigen Verkäuferin, die es kaltlässt, dass sie unumschränkten Zugang zu derlei Schätzen hat, sind Schokoladenbonbons zu sehen namens
Klatschmohn
,
Eisbär
und
Karakum-Wüste
, mit gelben Kamelen, die über das gelbe Einwickelpapier trotten. Unter dem Einwickelpapier befindet sich eine dünne Schicht aus Silberfolie, die beim Auspacken in meinen Fingern knistert, worauf eine dunkelbraune Seitenfläche in ihrer ganzen Nussschokoladenpracht zutage tritt. »Bitte«, flehe ich, »bloß zweihundert Gramm.«
»Bonbons schaden dir«, sagt meine Mutter, während ihr die Kassiererin einen Beleg reicht, den sie wiederum der Verkäuferin |81| geben muss. »Ich habe deine Schwester so viel Süßigkeiten essen lassen, wie sie nur wollte, und sieh sie dir an – sie wird Schauspielerin. Vielleicht wäre sie ja Ingenieurin oder Pathologin wie Galja, wenn ich strenger mit ihr gewesen wäre.«
Die Vorstellung, dass
Eichhörnchen
möglicherweise zur Schauspielerei führen, wirkt eher befremdlich, doch jetzt ist nicht der richtige Augenblick, um mit meiner Mutter zu diskutieren. »Nur ein wenig«, beschwatze ich sie. »Ein klein wenig zum Tee am Abend.«
Am Ladentisch mit den Backwaren tauscht sie den Beleg gegen ein Schwarzbrot und einen Laib weißes
bulka
ein.
»Zum Tee«, jammere ich. »
Tschut-tschut
– nur ein ganz klein
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