Goodbye Leningrad
Heldentod ist.
Marina scheint es nichts auszumachen, dass mein Vater nicht mit ihr blutsverwandt ist, und nennt ihn Papa, genauso wie ich. Er sei der einzige Vater, den sie je gekannt habe, sagt meine Mutter, da ihr leiblicher Vater, besagter unbekannter Alexander, an Tuberkulose erkrankt, kurz nach dem Krieg gestorben sei. Es gibt einen undurchsichtigen Zeitraum von etwa fünf Jahren zwischen Marinas Geburt und dem Tod ihres Vaters, über den meine Mutter nicht redet, einen Zeitraum, der meiner Meinung nach lang genug ist, dass Marina ihren Vater eigentlich kennen und sich an ihn erinnern müsste.
»Papa konnte nicht mitkommen«, sagt meine Mutter schnaufend, während sie die Treppe erklimmt und dabei unseren schwarzen Koffer Stufe um Stufe hinaufschleppt. »Er fühlt sich in letzter Zeit nicht so gut.« Das sagt sie mit einem Seufzer, wahrscheinlich weil sie das schwere Gepäck die Stufen hinaufgeschafft hat.
In Marinas Zimmer zerrt meine Mutter den Koffer in eine Ecke und öffnet ihn gleich, um meiner Schwester die Mitbringsel zu überreichen: ein Bügeleisen, ein ganzes Set dicker, rostfarbener Lockenwickler aus Gummi und ein zylindrisches Wattepaket, für das meine Mutter angeblich eine geschlagene Stunde lang in der Schlange gestanden hat.
In dem Raum stehen drei Bettgestelle aus Metall und ein Schrank. Zum Glück hat eine von Marinas Mitbewohnerinnen gerade geheiratet und ist zu ihrer Schwiegerfamilie gezogen, deshalb schieben wir für uns drei das freie Bett neben das meiner Schwester. In der Nacht träume ich davon, im Studentenwohnheim |95| zu leben, und von langen Fluren, die nirgendwohin führen und allesamt vor Backsteinmauern enden, die mich von dem fernhalten, was sich, wie ich weiß, dahinter befindet, nämlich die Bühne.
Die Abschlussaufführung meiner Schwester findet am nächsten Abend statt. Sie sei so etwas wie eine Abschlussprüfung, sagt meine Mutter; man müsse alles zeigen, was man gelernt habe, sonst bekäme man im Fach Schauspiel eine
dwojka
und würde direkt nach Pinsk verfrachtet, um im dortigen Kulturhaus einen Theaterclub für Straßenfeger zu organisieren. Meine Mutter ist sich noch immer nicht ganz sicher, ob es richtig war, Marina zu erlauben, auf die Schauspielschule zu gehen. Hin und wieder schüttelt sie den Kopf und sagt, Marina hätte lieber auf sie hören und einen richtigen Beruf erlernen sollen. Sie hätte wie Galja Pathologin werden können, klagt meine Mutter. Sie könnte Flugzeuge konstruieren.
Die Aufführung meiner Schwester ist ein Vaudeville, so etwas wie eine kurze romantische Komödie mit Musik, wie Marina erläutert. Ihr Stück heißt ›Die kleine Waise Susanna‹. Sie spielt Madame Pichard, eine verwitwete Kupplerin, die erfolglos versucht, für die titelgebende Waise einen Mann zu finden.
Am Morgen wacht Marina mit Halsschmerzen und heiserer Stimme auf, und den ganzen Tag lang macht meine Mutter in der Küche des Studentenwohnheims Milch warm und gibt Butterstücke in den Kochtopf dazu. Das beste Heilmittel, um die Stimme wiederherzustellen, sagt sie und trägt Tasse um Tasse des butterigen Gebräus nach oben in unser Zimmer.
»Ich darf doch nicht wie eine Krähe klingen«, krächzt Marina, in eine Decke gewickelt. »Hoffentlich hilft’s.«
Ich drücke die Daumen und wünsche mir, dass das Mittel meiner Mutter wirkt. Wir alle wissen um die Bedeutung der |96| heutigen Abendvorstellung, denn Marina muss, wie meine Mutter beteuert, alles zeigen, was sie in den vier Jahren gelernt hat. Ich bin mir nicht sicher, ob es fair ist, acht Semester Unterricht anhand eines anderthalbstündigen Vaudevilles zu beurteilen, aber so sind nun mal die Vorschriften der Schauspielschule und, wie mir schwant, die sämtlicher Schulen.
Ein paar Stunden später beobachte ich, wie Marina mit einem winzigen Pinsel schwarze Linien entlang ihrer Lider zieht und kleine rote Punkte in die inneren Augenwinkel malt. Ich beobachte, wie sie ihr Gesicht und ihren Hals mit einer beigefarbenen Schicht bedeckt und sich auf Wangen und Kinn kleine Lachen aus Rouge reibt, die sie auf ihrem Frisiertisch vorbereitet hat. Ich beobachte, wie sie die Lockenwickler aus Gummi, die meine Mutter aus Leningrad mitgebracht hat, in ihr Haar rollt; ich beobachte, wie sie einen weiteren Pinsel in die Hand nimmt und eine knallrote Linie um ihren Mund zieht. Ich beobachte alles von Nahem, und Marina fühlt sich nicht gestört, sondern starrt unverwandt in den Spiegel, streicht in eleganten, übertriebenen
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