Goodbye Leningrad
unterschiedlichen Vätern. Marina hat von ihrem die schauspielerische |99| Begabung und den operntauglichen Mezzosopran geerbt; meiner hat mir steife Gliedmaßen und zwei große Schneidezähne vererbt.
Vielleicht hat es aber auch nichts mit den Genen zu tun. Vielleicht liegt es an mir, an meinem mangelnden Talent, das das Theater und dessen Welt der Verstellung so faszinierend und real werden lässt. Ohne diese angeborene Begabung werde ich für alle Zeiten dazu verdammt sein, Teil der anderen, gewöhnlichen Verstellung zu sein, der glanzlosen, künstlichen Heuchelei einer Wera Pawlowna mit ihrem Heldenmut und einer Tante Polja mit ihrer ranzigen Butter und ihrem obligatorischen Kauen, der Heuchelei unseres Geschichtsbuches, das einen Pawlik Morosow wegen seiner kühnen Tat, dem Verrat an seinem Vater, heiligsprach, und unserer Schule, die die Statuten der Pioniere so verbog, dass ein
dwojeschnik
und Rowdy wie Dimka in ihre Reihen aufgenommen wurde.
Angesichts dieser erbärmlichen Wahrheit, die mir ins Gesicht starrt, bleibt mir nichts anderes übrig, als in die Hände zu klatschen und »Bravo« zu rufen, so wie meine Mutter und all die anderen Mütter im Publikum auch. Mir bleibt nichts anderes übrig, als diese echte Verstellung zu bewundern und zu beklatschen, das Theater und mit ihm meine Schwester, die am Rand der Vorbühne steht – mit den Wimpern ihrer fotogenen Augen klimpert und, während sie die Arme dem Publikum entgegenstreckt, ihre knallroten Lippen zu einem breiten Lächeln verzieht –, in dem vollen Bewusstsein, dass man sie nicht nach Pinsk verfrachten wird, um im dortigen Kulturhaus zu arbeiten, da ihre Abschlussvorstellung nicht weniger als eine
pjatorka
, eine glatte Fünf, verdient.
Am nächsten Tag erfahre ich beim Packen, dass ihre Leistung mit mehr als einer glatten Fünf belohnt wird. Meine Schwester sagt, sie sei vom künstlerischen Intendanten des Leningrader |100| Komödientheaters aufgefordert worden, im Herbst seinem Ensemble beizutreten. »Stell dir vor«, sagt Marina, während sie ihr Hauskleid und ihr Nachthemd zusammenlegt. »Der Intendant hat sich als der Ehemann dieser berühmten Schauspielerin Elena Wladimirowna herausgestellt, der ich in der zehnten Klasse vorgesprochen habe.« Meine Schwester stopft ihre zusammengelegte Kleidung, die Lockenwickler und das Bügeleisen in einen Koffer, da sie mit uns zusammen im Nachtzug reist, um ihre Schauspielkarriere in Leningrad anzutreten.
Meine Mutter sieht zufrieden, aber nicht überrascht aus, was darauf schließen lässt, dass meine Schwester ihr bereits alles erzählt hat, dass meine Mutter über diese günstige Wendung in Marinas Zukunft Bescheid weiß.
Es lässt darauf schließen, dass ich als Einzige keine Ahnung habe.
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SIMPLE PAST
Mascha Mironowa ist das einzige mir bekannte Mädchen, das Nylonstrümpfe anhat. Alle anderen tragen unterhemdenartige
liftschiks
, Leibchen, aus denen elastische Strumpfbandhalter mit Plastikklipps herauslugen, und gerippte Baumwollstrümpfe, die sich wie Schlangen um unsere Beine winden. Maschas frisch geschnittenes Haar, das von einem Haarband zurückgehalten wird, stellt eine Herausforderung für eine weitere Institution dar: Zöpfe. Zöpfe und Schleifen sorgen dafür, dass unser Haar lang und von den Friseuren verschont bleibt. Beim Gehen wippt Maschas glänzendes Haar über ihrem Nacken, und jedes Mal, wenn ich sie dabei beobachtete, wie sie mit den perfekt sitzenden Nylonstrümpfen über den Hof stolziert, spüre ich, wie meine baumwollverstärkten Fesseln zu Bleigewichten werden.
Mascha ist auch auf andere Weise außergewöhnlich. Von all meinen Freundinnen ist ihre Mutter die Einzige, die hohe Absätze trägt. Jeden Morgen klackert sie auf dem Weg zur Arbeit über den Hof: mit maßgeschneidertem Rock, toupiertem Haar, rotem Lippenstift. Sie unterrichtet Englisch an einer weiterführenden Schule. Das Wort »Englisch« klingt majestätisch und fremd. In meiner Familie spricht niemand eine Fremdsprache, erst recht keine so fremde wie Englisch. Meine Mutter kennt |102| die lateinische Bezeichnung sämtlicher Körperteile, aber Latein ist nicht exotisch, sondern veraltet und tot. Mein Vater spricht nur Russisch. Meine Schwester hat auf ihrer Moskauer Schauspielschule Französisch gelernt, aber Französisch ist so sehr Teil der russischen Geschichte, dass selbst meine provinzielle Tante Musa gelegentlich »Merci beaucoup« sagt.
Abgesehen von ihrem auffälligen Äußeren und ihrer
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