Goodbye Leningrad
Stuhl schubste und ihr auftrug, mit ihrer Mutter wiederzukommen. Und Anja Antonowa, die als erstes Mädchen hineingegangen ist, hat eine Dosis Arsen in den Zahnkanal verabreicht bekommen und soll in drei Tagen wiederkommen, wenn der Nerv abgestorben ist, damit die Zahnärztin mit der Baiserhaube eine Wurzelbehandlung durchführen kann.
Meine Partnerin Sweta, die als Letzte an der Reihe ist, hat das meiste Glück. Sie übernimmt meine Rolle vom Vorjahr, das Mädchen mit den perfekten Zähnen, und selbst die gemeinste Zahnärztin von allen, die Soja angeschrien hat, als sie weinte, konnte in ihrem verschreckten Mund beim besten Willen kein einziges Loch entdecken.
Zu Hause, beim abendlichen Tee, erzähle ich meinem Vater von unserem Besuch in der Zahnklinik. Er sitzt an seinem gewohnten Platz am Kopfende des Küchentisches, meiner Mutter gegenüber, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, eine Packung Belomor-Papirossy neben seiner Teetasse. Mein Vater mag keine Süßigkeiten, deshalb hält er eine Scheibe Schwarzbrot in der Hand, ein dickes Stück, das meine Mutter aus der Mitte des Laibes herausgeschnitten und mit einer üppigen Schicht Butter bestrichen hat. Mein Vater nimmt mit den Fingern eine Prise Salz und streut sie auf das Butterbrot.
|87| »Ich hasse
subniks
«, sage ich und verwende einen Begriff, den ich mir ausgedacht habe, eine Zahnperson anstatt eines Zahnarztes.
»Sprich nicht abfällig über Ärzte«, sagt meine Mutter. »Sie sind Zahnärzte, keine
subniks
.«
Mir gefällt die Bezeichnung, die ich mir ausgedacht habe, weil sie zutrifft. Zahnärzte sind Zahnleute, mehr nicht, die jeden März in deinem Mund herumstochern, auf der Suche nach einem Vorwand, damit sie am Kabel eines rostigen Bohrers ziehen und auf ein Pedal treten können, damit er in Gang kommt.
Ich frage mich, was mein Vater wohl von
subniks
hält. Seine Zähne sehen makellos weiß aus, bestimmt weil er sein Leben lang abends zum Tee Schwarzbrot anstatt
Eichhörnchen
gegessen hat. Vielleicht kann er mir ja etwas beibringen, von dem ich keine Ahnung habe. Vielleicht kann er mir ja ein zahnärztliches Geheimnis verraten, das nur Leute mit perfekten Zähnen kennen und das nicht bloß darauf beruht, einen Bogen um Schokoladenbonbons zu machen.
»Ich wünsche mir deine Zähne«, sage ich zu meinem Vater. »Perfekte Zähne, ohne Löcher.«
Meine Mutter wirft ihm über den Tisch hinweg einen Blick zu, die Art von Blick, die meinen Vater nach den Streichhölzern greifen und eine Papirossa aus der Packung klopfen lässt.
Ich sollte mir seine Zähne näher ansehen, die Zähne, die meine sein sollten, da er mein Vater ist, deshalb verlasse ich meinen Stuhl, klettere auf seinen Schoß und ziehe an seinen Lippen. Ich schiebe sie auseinander, um seine makellosen Zähne sehen zu können, so ebenmäßig und gerade wie auf einem Plakat für Zahnhygiene. Im Vergleich dazu sollten einen die Zähne meiner Mutter mit ihren zahlreichen Füllungen daran erinnern, dass Schwarzbrot vorzuziehen ist, und davon abhalten, noch mehr
Eichhörnchen
zu kaufen.
|88| Aber sind perfekte Zähne es wert, die Süßigkeiten zugunsten von Schwarzbrot aufzugeben? Lohnt es sich, jahrelang zu leiden und sich die Freude an
Eichhörnchen
zu versagen, um solche Zähne wie mein Vater zu haben, oder sollte man lieber den Schuldgefühlen erliegen und das jährliche Bohren beim Zahnarzt ertragen?
Ich bin stolz darauf, mir diese philosophischen Fragen über Schuld und Genuss zu stellen, weiß aber, dass sich hinter dieser Redekunst eine große ungeklärte Frage verbirgt, nämlich: Sind diese perfekten Zähne echt? Ein-, zweimal, als mein Vater, weil es ihm nicht so gut ging, im Bett geblieben war, habe ich auf dem Waschbecken im Bad ein Glas gesehen – das nur dort stand, wenn er nicht zur Arbeit ging –, gefüllt mit milchigem Wasser und einer Art Wucherung aus rosa Plastik, der etwas entspross, das verdächtig nach Zähnen aussah. Sind seine eigenen Zähne so voller Löcher und Metall, dass er sie hinter dieser trügerischen Fassade verbergen muss, die in einem Glas aufbewahrt wird? Ist dies ein weiteres Beispiel für
wranjo
, wie die Waschbeckenattrappe in unserer Datscha oder die geheuchelte Verachtung meiner Mutter für die
Eichhörnchen
?
Mein Vater befreit sich aus meinen Händen und zündet sich eine Papirossa an. Er wolle kein Brot mehr, sagt er, als meine Mutter nach einem Messer greift, um eine weitere Scheibe abzuschneiden. »Du willst meine Zähne haben?«,
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