Goodbye Leningrad
Mutter mit den Pfennigabsätzen hat Mascha noch einen weiteren Vorzug, der mich mit Bewunderung erfüllt: Sie spricht diese nur selten gehörte, geheimnisvolle Sprache. Jeden Morgen, wenn wir uns alle auf den Weg zu unserer Bezirksgrundschule machen, steigt Mascha in den Bus Nr. 22, um zu einer englischen Schule zu fahren, einer der wenigen in der Stadt, zweifellos ein Ort für die Auserwählten. Außer Russisch, Mathe und Biologie lernt sie dort Literatur, Geschichte und Geografie – alles auf Englisch. Jeden Morgen setzt mein Herzschlag einmal aus, wenn ich aus meinem Fenster zur Bushaltestelle blicke und ihre in Nylon gehüllten Beine in den überfüllten Bus steigen sehe.
Mascha trägt den Familiennamen ihrer Mutter, Mironowa, und nicht den ihres Vaters, Finkelstein. Da ich mich nicht traue, sie selbst nach dieser Unstimmigkeit zu fragen, frage ich meine Mutter.
»Mironowa ist ein russischer Name«, sagt meine Mutter ohne Begründung, als verstehe sich das, was sie gesagt hat, von selbst. Ich weiß, dass Namen, die auf
-owa
oder
-ow
enden, russisch und solche, die auf
-stein
enden, jüdisch sind. Als sie merkt, dass ich auf weitere Erklärungen warte, setzt sie hinzu: »Die Eltern können selbst entscheiden, welchen Namen sie ihrem Kind geben wollen, den des Vaters oder den der Mutter. Gewöhnlich ist es der des Vaters, aber Maschas Eltern wollten, dass sie es im Leben leichter hat.«
|103| Ich atme auf. Mein eigener Name ist russisch, vielleicht werde ich es dann auch leichter haben im Leben.
Wir sitzen in Maschas Wohnung und blättern in Hochglanzmagazinen, die ihre Mutter von der Arbeit mitgebracht hat. Dazu gehört die bulgarische ›Burda‹, mit zähnefletschenden Frauen auf Bleistiftabsätzen, und die polnische ›Moda‹, so dick wie ›Verbrechen und Strafe‹. Ich betrachte die strahlenden Modelle, die gewiss ausnahmslos Seidenstrümpfe tragen und noch nie von
liftschiks
und sich windenden Strümpfen gehört haben. Mascha und ich versuchen uns vorzustellen, warum die Menschen in Ländern wie Bulgarien und Polen, die doch viel kleiner sind als das unsrige, sich dermaßen für Mode interessieren, dass sie eigene Zeitschriften veröffentlichen, die ganz dem äußeren Schein gewidmet sind.
»Die Arbeitskollegin meiner Mutter ist im Zuge eines kulturellen Austauschs nach Sofia gereist«, sagt Mascha. »Sie hat in der Wohnung einer Lehrerin übernachtet. Sie sagt, in der Lobby des Wohnblocks hätte es blühende Pflanzen gegeben.«
Man kann sich nur schwer vorstellen, dass an einem so unpassenden Ort Blumen blühen. Die Eingänge zu unserem Wohnblock sind aus nacktem Beton, mit kaputten Glühbirnen, es stinkt nach Urin.
»Was ist überhaupt eine Lobby?«, fragt Mascha.
Ich kenne keine Lobbys, sondern nur Treppenhausschachte, deshalb zucke ich mit den Schultern.
»Ich kenne auch jemanden, der nach Prag gereist ist«, sagt Mascha ganz nonchalant, was ihr in meinen Augen einen noch höheren Grad an Weltläufigkeit verleiht. In der Rangliste fremder Länder kommt die Tschechoslowakei vor Bulgarien, obwohl beide weit hinter England rangieren.
»Würdest du nicht gern mal nach England fahren?«, frage |104| ich wehmütig. »Wo du doch so viel Englisch lernst?« Wir wissen beide, dass es eine rein rhetorische Frage ist, denn England ist der Westen und eine Reise dorthin ganz und gar undenkbar.
»Ich würde gern die Beefeaters sehen«, sagt Mascha, die gerade eine Lektion über den Londoner Tower abgeschlossen hat. »Und einen Laura-Ashley-Laden.«
Wir haben in ›England‹, der einzigen westlichen Zeitschrift, die wir im Stapel ihrer Mutter entdecken, ein Foto von der Fassade eines Laura-Ashley-Ladens gesehen. ›England‹ erscheint als britisch-sowjetisches Gemeinschaftsprojekt in russischer wie englischer Sprache beim Moskauer Verlag Progress und ist allein vertrauenswürdigen Lesern wie Maschas Mutter zugänglich.
Die Laura-Ashley-Kleider haben dermaßen kräftige Farben, dass unsere Augen davon wehtun. Sie ähneln blühenden Gärten, deren Farben miteinander verschmelzen, ineinanderlaufen, fantastische Arrangements ergeben, wie Sträuße aus herrlichen Blumen. Sie würden, finden wir, gut in die Lobby eines Wohnblocks in Sofia passen.
Ich sitze zu gern in Maschas Wohnung. Es ist in etwa so, wie Englisch zu hören – faszinierend. Weiche gelbe Sessel schmeicheln meinen Ellbogen auf dieselbe Weise wie palatale
l
’s und gerollte
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’s meinen Ohren. Eine Stehlampe mit
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