Goodbye Leningrad
fragt er, hebt mich von seinem Schoß und stellt mich auf den Boden.
Meine Mutter blickt auf und runzelt die Stirn, als wüsste sie nicht genau, was sie als Nächstes tun soll.
»Was hat diese
subnik
gesagt, als sie deine fünf Löcher zugestopft hat?«, fragt er, wobei er mein selbst erfundenes Wort verwendet und der Mahnung meiner Mutter, mich nicht abfällig über Ärzte zu äußern, keine Beachtung schenkt.
»Nichts«, antworte ich. »Sie hat nichts gesagt und war |89| gemein. Sie hat Arsen in Anja Antonowas Wurzelkanal gestopft.«
»Hat sie irgendetwas darüber gesagt?« Er nimmt aus der kleinen Metallschale auf dem Tisch ein
Eichhörnchen
und lässt es zwischen den Fingern herabbaumeln, als sei es giftig.
Das
Eichhörnchen
in seinem blaugrünen Papier sieht so verlockend aus, dass ich zu dem Schluss komme, es lohne sich nicht zu leiden. Der nächste März ist eine Ewigkeit entfernt, und vor mir liegt ein ganzes
subnik
-loses Jahr, das sich mit Kilos von
Eisbären
und
Klatschmohn
und
Eichhörnchen
, die auf den Regalen unseres Lebensmittelladens prangen, versüßen lässt.
Mein Vater sieht mir an, dass es mir egal ist, ob ich meine Zähne ruiniere, dass ich lieber mit dem metallischen Lächeln meiner Mutter leben als auf Schokolade verzichten würde.
»Möchtest du sehen, was passiert, wenn du nicht auf deine Zähne achtest?«, fragt er und streckt den Arm aus, um das Bonbon in seiner Hand wieder in die Schale zurückzulegen.
Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich stehe mitten in unserer Küche, zwischen dem Schrank mit der eingemachten Datscha-Marmelade und dem Herd mit einem Topf Borschtsch unter einer Wärmehaube, und weiß nicht, ob ich der Wahrheit ins Gesicht sehen möchte. Und als mein Vater sich vorbeugt und das Bonbon fallen lässt, als der Ärmel seines Flanellpyjamas meine leere Tasse streift, weiß ich es auf einmal. Ich bin mir jetzt ganz sicher, dass ich seine echten, kaputten Zähne unter den falschen, vollkommenen nicht sehen möchte. Lieber bilde ich mir ein, seine Zähne wären gesund und weiß; lieber tue ich so, als wäre mein Vater unbesiegbar und makellos.
»Dein Vater ist im Krieg an Skorbut erkrankt«, sagt meine Mutter und nimmt vorweg, was auch immer ihrer Meinung nach als Nächstes kommen würde, da sie mir ansieht, dass ich |90| nichts sehen möchte, das ihn verunstalten würde. »Deshalb hat er seine Zähne verloren, vor Hunger und aus Vitaminmangel. So ist es im Krieg vielen ergangen.«
Krieg und Hunger sind die beiden Begriffe, die wir überall hören: in unseren Klassenräumen, in unseren Nachrichten, in den Unterhaltungen der Babuschki auf den Bänken in unserem Hof. Sie sind ungenau und abgegriffen, etwas, das nicht einzelnen Personen, sondern dem ganzen Land zugestoßen ist. Dennoch kommt es mir so vor, als hätte der Verlust der Zähne speziell meinen Vater getroffen, diesen knochigen Mann, der auf seinem Stuhl unter dem Regal mit dem Radio sitzt, aus dem munter Tschaikowskys ›Tanz der kleinen Schwäne‹ erklingt. Hastig stürze ich zu ihm und springe erneut auf seinen Schoß, lege meine Arme um seinen Hals und vergrabe mein Gesicht in den flanellenen Falten auf seiner Brust. Er duftet nach der braunen Seife, die meine Mutter verwendet, wenn sie die Wäsche in der Badewanne auf dem hölzernen Waschbrett mit den Metallrippen schrubbt, und nach seinen Belomor-Papirossy und nach warmer, von Tee belebter Haut.
Das sind angenehme Gerüche, die bewirken, dass ich mich noch tiefer in den Flanell seines Pyjamas schmiege, aber ich weiß, es ist gefährlich, sich in falscher Sicherheit zu wiegen. Ich bin nicht mehr in der zweiten Klasse und mir sind soeben fünf Zähne mit dem Bohrer behandelt worden. Ich denke an Krieg und Hunger, nicht den Hunger, unter dem das Land zu leiden hatte, sondern den, der meinem Vater die Zähne genommen hat. Dieser spezielle Hunger im Gegensatz zum abstrakten Hunger, über den meine Lehrerin Wera Pawlowna im Geschichtsunterricht doziert. Ich denke an den Hunger, der Pawlik Morosow zum Helden werden ließ, aber auch an das, was später geschah, an das, was ich von Marina erfahren habe, worüber Wera Pawlowna in der Schule nie spricht. Pawliks |91| Heldenstatus zum Trotz griff sein eigener Onkel – mit eiskalter Gleichgültigkeit gegenüber all den Menschen, die Pawlik durch den Verrat an seinem Vater vor dem Hungertod bewahrt hatte – nach einem Beil und übte ganz persönliche Rache am Kopf seines Neffen. Und diese von offizieller Seite
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