Goodbye Leningrad
nie geahndete, private Tat machte auf mich einen viel größeren Eindruck als all die Geschichten über gerettete Menschen und triumphierende Kollektive, von denen unsere Lehrbücher übervoll waren.
Abgesehen von der Unterscheidung zwischen dem individuellen Verlust, der meinen Vater traf, und dem kollektiven Verlust, wie er sich allein auf unsere Zensuren im Geschichtsunterricht auswirkte, lässt mich eine andere, viel gewichtigere Frage nicht los. Trotz seiner perfekten Angelausrüstung, seiner Ruderkünste und kräftigen Arme gab es etwas, das noch stärker war und ihm etwas anhaben konnte. Etwas, das nicht einmal mein Vater abzuwenden vermochte. Während ich also auf seinem Schoß sitze und seinen Geruch nach Tabak und Seife einatme, lenkt mich diese Frage von diesen angenehmen, heimeligen Düften ab. Wenn er gegen Krieg und Hunger nicht gewappnet war, welche Gefahr mochte dann sonst noch in der Außenwelt lauern, etwas, das so versteckt und unaussprechlich ist, dass meine Mutter deswegen die Lippen zusammenpresst und seufzt?
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THEATER
Meine Mutter und ich fahren nach Moskau, um uns die Abschlussaufführung meiner Schwester anzusehen. Sie ist vier Jahre lang fort gewesen und hat auf der nach dem berühmten, längst verstorbenen Schauspieler Schtschukin benannten Schauspielschule studiert. Es ist Juni, meine Mutter hat die letzten Prüfungen abgenommen und ich habe mich soeben von Wera Pawlowna und meiner dritten Klasse verabschiedet. Ich bin ein Jahr älter, erleichtert, dass Dimka, der Rowdy, sitzen geblieben ist, und hoffe, nicht länger die goldene Einfassung für Soja Tschurkinas Diamant sein zu müssen.
Wir reisen mit dem Nachtzug und schlafen in Marinas Zimmer im Studentenwohnheim, was für sich allein genommen schon ein richtiges Abenteuer ist. Ich bin noch nie woanders gewesen als in der Datscha, wo alles öde und vertraut ist. Das Studentenwohnheim mit seinen breiten Fluren und weißen Wänden, seinen fremden Gerüchen nach Unbeständigkeit und der Kleidung anderer Leute ist das genaue Gegenteil von der Datscha.
»Ans Flurende und dann zwei Stockwerke höher«, sagt Marina, die uns vorauseilt, wobei ihr Pferdeschwanz so heftig hin- und herschwingt wie die beiden Einkaufsnetze in ihren Händen. Sie sind gefüllt mit
piroschki
, die meine Mutter am Vortag |93| gebacken hat, und großen Stücken Salami und Käse, die in die ›Prawda‹ der vergangenen Woche eingewickelt sind.
Marina hat inzwischen lange Haare und einen Pony, der bis zu ihren kunstvoll geschwungenen Augenbrauen herabfällt. Als sie im vergangenen Sommer zwei Wochen lang zu Hause war, bevor sie zu ihrem ersten Filmengagement aufbrach, beobachtete ich, wie sie sich vor einem Spiegel im Flur mit einer Pinzette die Augenbrauen zupfte und die kleinen Härchen gnadenlos aus dem Gesicht riss, wobei sie sich bei jedem heftigen Ruck auf die Lippe biss. Es kam mir barbarisch vor, das eigene Haar auszureißen, doch Marina sagte, das verlange die Bühne, und ich war von ihrem Mut wie von den harten Anforderungen der Kunst gleichermaßen beeindruckt. Abgesehen von ihrer Frisur ist Marina immer noch die gleiche – laute Stimme, große Augen, die meine Mutter als fotogen bezeichnet, und eine breite Nase, weshalb meine Schwester ihren eigenen Worten nach eher für Charakterrollen infrage kommt.
Ich sehe ganz anders aus als meine Schwester. Das liegt daran, dass sie meine Halbschwester ist und wir verschiedene Väter haben, weshalb auch unsere Vatersnamen unterschiedlich sind. Sie heißt Marina Alexandrowna, die Tochter von Alexander, und ich Elena Iljinitschna, die Tochter von Ilja.
Ich weiß nicht, wann ich erfahren habe, dass meine Schwester einen anderen Vater hat. Mit fünf wusste ich es noch nicht, aber in Wera Pawlownas Geschichtsunterricht wusste ich es bereits. Ich wusste es, als sie uns von Pawlik Morosow erzählte, der einen echten, lebenden Vater hatte, weshalb ich an Marina denken musste, die keinen hatte.
Marinas Vater starb 1947. Als wir uns im vorigen Jahr darauf vorbereiteten, Pioniere zu werden, versuchte ich, mir den heldenhaften Tod ihres Vaters vorzustellen, aufgrund dessen er es verdient hätte, in Wera Pawlownas Geschichtsunterricht |94| beim Thema Wagemut erwähnt zu werden. Ich stellte mir vor, wie er mit einer Granate einen Panzer aufhielt oder über einen Artilleriegraben hechtete, bis ich meine Mutter sagen hörte, er sei an Tuberkulose gestorben, was unseren Geschichtsbüchern zufolge alles andere als ein
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