Goodbye Leningrad
Bewegungen mit einem kleinen Pinsel über ihre Lider und genießt die Aufmerksamkeit in vollen Zügen.
Ich würde alles darum geben, sie nachzuahmen und mit anzusehen, wie mein Gesicht sich von dem vertrauten der Pionierin mit Zöpfen zu dem einer ganz Anderen verwandelt, wie man sie in Wera Pawlownas Schulbüchern vergeblich suchen würde. Das ist Theater, die echte Verstellung, aufregend und bedeutungsvoll, so ganz anders als die tägliche Verstellung, an die wir uns alle halten müssen. Es ist ein Spiel, das allein die wenigen Auserwählten, die mit Talent Gesegneten, einer von hundert, spielen dürfen.
Meine Mutter hilft Marina, das schwere burgunderrote Kleid, das sich genauso rau anfühlt wie mein Wintermantel und dessen Rock von drei metallenen Reifen gespreizt wird, |97| hochzuheben und einen Kopfschmuck aus schwarzen Federn in ihrem lockigen Haar festzustecken. Fasziniert erlebe ich mit, wie sich meine Schwester, die zwei Stunden zuvor noch in ein Laken des Studentenwohnheims gehüllt war, in eine Fremde namens Madame Pichard verwandelt.
Dann sitzen wir in der zweiten Reihe, und meine Mutter beißt sich auf die Lippen, während Marina in der Eröffnungsszene auftritt. Sie spricht ihren Text mit entschiedener, lauter Stimme, wobei sie einen Fächer in der einen Hand hält und mit der anderen ihren langen Rock nur eben weit genug anhebt, um die Spitze ihres Schuhs freizulegen.
Ihre Stimme hält in der ersten und zweiten Szene durch, aber meine Mutter und ich wissen, dass ihr Lied, ihr wichtigster Auftritt in diesem Stück, die eigentliche Prüfung sein wird. Musik ertönt aus dem Orchestergraben, der sich zwei Meter unterhalb der Bühne befindet, und Marina tritt an den Rand, einen etwa dreißig Zentimeter breiten Streifen, der um das Orchester herum zum Publikum hin verläuft.
Ich presse meine Fingernägel in die Handflächen und befeuere Marina in Gedanken mit sämtlichen Schimpfwörtern, die mir einfallen, denn das soll man tun, wenn man jemandem viel Glück wünscht. Leider kenne ich keine richtigen Schimpfwörter, deshalb fällt mir nichts Besseres ein, als Marina eine Idiotin, eine Verrückte und einen Rowdy zu nennen, dabei ist Letzteres gar kein richtiges Schimpfwort, da meine Lehrerin Wera Pawlowna es ständig benutzt.
Meine Schwester fängt an zu singen, wobei sie ihre Stimme eine Spur zurücknimmt; allerdings wissen nur meine Mutter und ich, dass sie fürchtet, sie zu sehr zu beanspruchen. Ihre Stimme ist deutlich zu vernehmen, sie füllt das Theater. Sie schreitet den gesamten Bühnenrand ab, wobei sie in der einen Hand ihr Kleid und in der anderen ihren Fächer hält, in ihren |98| spitzen Schuhen kleine Tanzschritte vollführt und ihre Stimme die Tonleiter hinauf- und hinunterjagt, um dem Orchestergraben aus zwei Meter Tiefe Musik abzuschmeicheln. »Kleine Waise Susanna, kleine Waise Susanna«, singt sie mit Madame Pichards lebenskluger, erfahrener Stimme, »lass mich einen Mann für dich finden.« Ihr Kleid fällt in herrlichen Stoffkaskaden und streift hinter ihr über die Bühne, als wäre es aus feiner Seide gefertigt und nicht aus dem kratzigen Polyester, den ich zwei Stunden zuvor in den Händen gehalten hatte. Sie holt tief Luft und setzt an zur abschließenden Roulade, während meine Mutter sich mit beiden Händen an den Armlehnen ihres Stuhles festklammert und meine Fingernägel so tief in die Haut meiner Handflächen eindringen, dass es schmerzt. Im Publikum herrscht ein paar Sekunden lang absolute Stille, als hätten sämtliche Anwesende vergessen auszuatmen, doch dann merken wir alle, dass sie fertig ist, und ein tosender Applaus bricht los.
Ich klatsche derart heftig, dass meine Handflächen zu brennen beginnen. In diesem Moment bin ich stolz, mit Marina verwandt zu sein, liebe ich ihre Bühnenstimme, denn sie ist kräftig und erhaben und nicht an mich gerichtet. Meine Mutter applaudiert und lächelt ebenfalls, und ihre Augen strahlen vor Stolz, demselben Stolz, den sie verspürt haben muss, als die berühmte Schauspielerin ihr von Marinas Begabung erzählte.
Ich stelle mir vor, wie ich selbst auf dieser Bühne einen Knicks mache und mich verneige und huldvoll lächle, aber so gern ich auch dort oben geschminkt in einem Krinolinenkleid stehen würde, so weiß ich doch tief in meinem Herzen, dass ich es nie fertigbringen würde. Ich könnte nie vor auch nur einem einzigen Augenpaar auftreten, geschweige denn vor fünfhundert. Vielleicht liegt es ja an den Genen, an unseren
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